Uwe Michael Lang
„Ich will dich an mich ziehen“
Jonathan Robinson war viele Jahre Praepositus des von ihm mitbegründeten Oratoriums des hl. Philipp Neri in Toronto und Regens des von dieser Gemeinschaft geführten Priesterseminars. Zuvor lehrte der ausgewiesene Hegelkenner als Professor für Philosophie an der McGill-Universität von Montreal. Robinsons Schriften zur spirituellen Theologie zeichnen sich aus durch Treue zum überlieferten Glauben der Kirche, intellektuellen Anspruch sowie Klarheit in der Diktion und sind durchzogen von seiner eigenen Erfahrung im geistlichen Leben und in der Seelenführung.
In deutscher Sprache ist jetzt von ihm erschienen:
Jonathan Robinson, Ich will dich an mich ziehen. Wege der Gotteserfahrung. Adamas Verlag: Köln, 2003. 252 S. ISBN 3-925746-87-0. 13,90 €.
Ich will dich an mich ziehen handelt vom persönlichen Gebet in der Tradition der katholischen Kirche. Dabei teilt sich das Buch in zwei recht unterschiedliche Teile, deren erster, kürzerer den Titel „Eine Theorie der Tradition“ trägt (S. 19-64). Die Überlieferung der Kirche stellt den Kontext für das Gebet des einzelnen her, sie nährt es durch ihre Lehre und trägt es in der Gemeinschaft der Gläubigen, der Lebenden und der Toten. Zurecht sieht Robinson die Notwendigkeit für eine Neubesinnung auf den Traditionsbegriff, der für den katholischen Glauben unverzichtbar ist, heute jedoch in Lehre und Praxis in Frage gestellt, wenn nicht gar als irrelevant übergangen wird. Der Autor wirft Schlaglichter auf die theologische Diskussion und ist entgegen Yves-Marie Congars Reduktion von Tradition auf die Tätigkeit des Überlieferns („id quod traditum est, id quod traditur“) um die inhaltliche Füllung des traditum bemüht. Ohne ein Materialobjekt verliert die Tradition ihre normative Kraft, so daß die Gläubigen auf Gedeih und Verderb einer schrankenlosen Kreativität ausgeliefert sind, wodurch die lebendige Verbindung zu den gegebenen Grundelementen des Christentum verloren geht. Maßgebliche Quelle für den Inhalt des traditum ist für Robinson der Katechismus der Katholischen Kirche.
Dabei kommt das aktive und erlebnishafte Moment der Tradition keineswegs zu kurz. In Anlehnung an John Henry Newmans Entwurf einer Zustimmungslehre macht der Autor deutlich, dass der Glaube als Zustimmung zu der Wahrheit der Offenbarung sowohl begrifflich (notional) als auch wirklich (real) sein muss. Glaube als wirkliche Zustimmung erfasst die ganze Person und zeigt sich in einem von den christlichen Tugenden geformten Leben. Robinson schlägt vor, die Aneignung der Tradition in Analogie zur benediktinischen lectio divina, dem meditativen Lesen der Heiligen Schrift, zu sehen. Durch sorgfältige und betrachtende Lektüre der geistlichen Klassiker wird das überlieferte Glaubenserbe in jeder Generation weitergegeben und kann seine prägende Kraft im Leben der Gläubigen entfalten. Dies ist nicht weniger als die Schule der Heiligen, und es liegt für den Oratorianer Robinson nahe, diese Methode am Beispiel des hl. Philipp Neri (1515-1595) zu veranschaulichen. Wie Platon in seinem Siebten Brief, so zeigte auch Philipp Misstrauen gegenüber dem geschriebenen Wort als Mittel zur Weitergabe der lebendigen Wahrheit. Statt dessen wählte er das vertraute Gespräch mit seinen Anhängern, um diese mit Herz und Verstand zu Gott und so zu einem guten Leben zu führen. Schon von Zeitgenossen wurde er daher mit Sokrates verglichen. Unter Philipps Führung entstand im Oratorium das „Sprechen über das Buch“ (il ragionamento sopra il libro), ein improvisiertes Gespräch, das sich aus der Lektüre eines inspirierenden Textes ergab. Die Laudi des Franziskaners Jacopone da Todi (1230-1306) gehörten zu den Lieblingsschriften Philipps, die er in diesen Gesprächen zur geistlichen Unterweisung seiner Gefährten benutzte. Die Lobgesänge Jacopones sind durchwirkt von der franziskanischen Liebe zum gekreuzigten Herrn, vereint mit der Liebe zur Kirche als dem lebendigen, aber verwundeten Mystischen Leib Christi. Trotz der offensichtlichen Gegensätze zwischen beiden Persönlichkeiten teilte Philipp die Sehnsucht des mittelalterlichen Bettelmönches nach Reform in der Kirche; nicht zuletzt nahm er wesentlichen Anteil an der Erneuerung der Catholica in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts und gilt als zweiter Apostel Roms.
Robinson greift im zweiten, umfangreicheren Teil seines Buches „Wege der Gotteserfahrung“ (S. 67-223) auf die Laude mit dem Titel „Fünf Weisen, in denen Gott sich zeigt“ zurück, um die Grundzüge des geistlichen Lebens zu entfalten. Jacopone erzählt, wie Gott sich ihm in Liebe mitteilt und im Zusammenspiel mit der Erwiderung des Beters zu immer größerer Innigkeit und Gemeinschaft mit ihm führt. Als Befreier sucht Gott die sündige Seele auf und rührt sie zu Reue und Zerknirschung. Die Antwort darauf ist das Bittgebet, durch das sich allmählich unser Verständnis von der Herrlichkeit Gottes vertieft. In den Sakramenten schenkt Gott alsHeiler der wiedererweckten, aber noch fragilen Seele Genesung und Stärkung. In diesem Stadium führt uns das meditative Gebet dazu, dass wir uns die Wahrheiten des Glaubens tiefer bewusst machen. Es folgt eine Phase, in der Licht und Dunkelheit abwechseln und in der die Tugenden sich bewähren, mit denen Gott als Freund die Seele beschenkt. Die Antwort darauf ist das Dankgebet, das uns die Liebe Gottes recht ermessen lässt. Jedoch enden der Friede und die Ruhe des Dankgebets abrupt, wenn wir Gott als Vater gegenüberstehen, der uns vor harte, ja unergründliche Prüfungen stellt. Das einzig mögliche Gebet in diesen Zeiten innerer Dunkelheit besteht darin, nichts anderes zu wollen, als was Gott uns zu erleiden aufgetragen hat, und darin Wirklichkeitssinn und Standhaftigkeit zu zeigen. Schließlich nähert sich Gott uns als der Geliebte der Seele, der uns den Frieden der Vereinigung, das Gebet des Herzens bringt.
Die Ausdeutung der fünf Stadien in Jacopones Laude ist reich an Bezügen und Verweisen auf Klassiker der Theologie und des geistlichen Lebens wie Augustinus, Thomas von Aquin, Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Franz von Sales, John Henry Newman und Edith Stein. Bei aller Belesenheit betont Robinson, dass Beten vertrauter Umgang mit Gott ist, der jedem Getauften zugänglich ist. Die Fähigkeit dazu erfordert keine bestimmte Technik, sondern lediglich ein Sich-Einlassen auf das Beten der Kirche. Die Ressourcen der christlichen Überlieferung sind weiter und tiefer als jede Art von Theorie, die gerade in Mode sein mag. Nach Jacopone stellt sich das Gebet als doppelte Bewegung dar: Offenbarwerden des Herrn und geistlicher Fortschritt des einzelnen. Der Originaltitel des Werkes On the Lord’s Appearing. An Essay on Prayer and Tradition legt den Akzent auf die alles übersteigende Wirklichkeit Gottes und das Ergriffensein durch den anderen, der uns dennoch, um mit Augustinus zu sprechen, näher ist als wir uns selbst. Der Titel der deutschen Übersetzung Ich will dich an mich ziehen. Wege der Gotteserfahrung überrascht zunächst, doch seine innigere Note geht nicht fehlt, da das Buch von den Weisen handelt, wie Gott dem Gläubigen im persönlichen Gebet begegnet und ihn so im geistlichen Leben voranschreiten läßt.
Ich will dich an mich ziehen erfüllt sein Ziel, wenn es gleich dem ragionamento sopra il libro Philipp Neris Menschen zu einer lebendigen, durch den Reichtum der Tradition vermittelten Gottesbegegnung führt. Dem Adamas-Verlag gebührt das Verdienst, dieses schöne Werk einer deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht zu haben. Stefan Schmidts Übersetzung ist gelungen und gibt den klaren Stil des Autors gut wieder. Es ist zu wünschen, dass auch Robinsons jüngstes Werk Spiritual Combat Revisited (San Francisco: Ignatius Press, 2003) in deutscher Übersetzung erscheinen wird.
Vom Autor der Buchbesprechung, der am 11. September in London die hl. Priesterweihe empfangen wird, ist vor einigen Monaten das sehr empfehlenswerte Buch erschienen:
Uwe Michael Lang:Conversi ad Dominum. Zur Geschichte und Theologie der christlichen Gebetsrichtung. Mit einem Vorwort von Joseph Kardinal Ratzinger, Johannes-Verlag: Einsiedeln 2003, ISBN 3-89411-384-7, 13 €.