Der veruntreute Thomas - Rahners Fehlstart in Freiburg

Walter Hoeres

Neue theologische Lehrmeinungen und Ansichten des Glaubens, auch Häresien, gründen immer auch in einer ganz  bestimmten philosophischen Sicht der Dinge. So zeigt uns  die Kirchengeschichte, dass man das berühmte Wort, nach  dem die Philosophie ancilla philosophiae (Magd der Theologie) ist, allzu oft dahingehend erweitern muss, dass sie ihre  seductrix, Verführerin der Theologie gewesen ist – und  immer noch ist! In diesem Sinne ist auch das Erdbeben, das  Rahner ausgelöst hat und das in der Nachkonzilszeit die Kirche weit über den Kreis der theologischen Fachleute ergriffen  hat, schon in dem großangelegten frühen philosophischen  Entwurf angelegt, mit dem er 1937 vergeblich bei Martin  Honecker (1888–1941) in Freiburg zu promovieren suchte  und der dann – „re infecta“ – 1939 in Innsbruck unter dem  Titel „Geist in Welt“ als Buch erschien.

Bedenkt man die ungeheure Resonanz und Wirkung Rahners, dann ist die Ablehnung dieses Werkes durch Honecker  ein geistesgeschichtliches Ereignis, das ein bezeichnendes  Schlaglicht wirft auf die Sprengkraft der Ideen, die sich  schon beim frühen Rahner finden. Das ist auch die Auffassung des bekannten Aachener Philosophen Vincent Berning,  der uns genau richtig zum Rahner-Jubiläum eine großangelegte, philosophisch profunde Monographie über Martin  Honecker vorlegt, in der den Vorgängen um jene Ablehnung  aufs sorgfältigste nicht nur in historisch dokumentierender,  sondern – eben! – vor allem auch in philosophisch und theologisch absolut kompetenter Weise nachgegangen wird.1

 Die Untersuchung von Berning ist umso mehr zu begrüßen, als von Seiten der Rahner-Gemeinde die Ablehnung seiner Arbeit durch Honecker mit der Schmähkritik begründet  wurde, dieser sei als mediokrer Kopf der Genialität der Rahnerschen Gedankengänge nicht gewachsen gewesen. Es ist ja  bekannt und der Verfasser dieser Zeilen musste es schon als  junger Hochschullehrer erfahren, dass jede Kritik an Rahner  oder seinen Schülern einem Stich ins Wespennest gleicht.  Wer es wagt, den geradezu mystischen Rahner-Kult kritisch  zu hinterfragen, muss auf die wütende Reaktion seiner  Gemeinde gefasst sein. So gab der wohl bekannteste Schüler  und enge Vertraute Rahners, Herbert Vorgrimler, seinerzeit in  der „Tagespost“ das vernichtende Urteil über mich ab: „Dieser Herr Hoeres, der in Freiburg künftige Erzieher unterrichtet, hat 1962 versucht, in der ‚Deutschen Tagespost‘ mit Hilfe  der Enzyklika ‚Humani generis‘ Johannes Baptist Metz anzuschießen. Erst mit diesem Herrn Hoeres rundet sich das Bild  ganz ab“.2 Und das weil ich es gewagt hatte, in der gleichen  Zeitung die „Christliche Anthropozentrik“ des Rahner Schülers J. B. Metz einer scharfen Kritik zu unterziehen.

In dieser vernichtenden Weise urteilt Vorgrimler auch über  Honecker, den er als „schlichten und beschränkten Vertreter  jener Neuscholastik“ bezeichnet, die mit Thomas von Aquin  nicht mehr zu tun habe „als die Existenzialistenbärte von  Montmartre mit der Existenzphilosophie“.3 Berning weist  nun nach, dass es sich hier in zweifacher Weise um ein absurdes Fehlurteil handelt. Einmal war Honecker gar kein Vertreter der Neuscholastik und sodann ein Philosoph von hohen Graden.

Honecker kam als Schüler Oswald Külpes (1862–1915)  und Adolf Dyroffs (1866–1943) vom Kritischen Realismus  her, den er selbst zeitlebens und in großangelegten Synthesen  vertreten hat. Dieser trifft sich zwar in einem entscheidenden  Punkt, nämlich in der Anerkennung der Tatsache, dass unsere  Erkenntnis die subjektunabhängige Außenwelt erreicht, wie  sie in sich ist, mit der Scholastik und damit auch der Neuscholastik. Aber der Weg, wie dieser Anspruch begründet  wird, ist ein ganz anderer und das hat Honecker denn auch  immer in deutlicher Abgrenzung zur Neuscholastik betont.  Aristoteles, Thomas von Aquin und mit ihm der größte Teil  der Scholastik wie übrigens auch der modernen Phänomenologie lehren, dass uns die Außenwelt unmittelbar in sich  selbst gegeben ist und zwar deshalb, weil die Sinnesdinge  unmittelbar auf das Sinnesvermögen einwirken: „per solam  immutationem sensus ab sensibili“.4 Plastisch und in einer in  der Scholastik durchaus geläufigen Form drückt das der  bekannte Neuscholastiker Joseph Gredt so aus, dass unsere  äußeren Sinne (und damit auch unsere geistige Erkenntnis,  die in ihnen gegenwärtig ist) „immediate attingunt obiecta“:  dass sie ihre Objekte unmittelbar berühren.5 Der Kritische  Realismus hingegen geht davon aus, dass uns zunächst nur  das intentionale Bewusstsein der Dinge und der Außenwelt  gegeben ist, das durch einen Kausalschluss auf sie bezogen  und als in ihr begründet und somit gerechtfertigt werden  kann. Sodass wir also keine unmittelbare, sondern nur mittelbare Gewissheit von ihr besitzen.

Der unbefangene Leser, der in der philosophischen Diskussion dieser nun schon vergangenen Epoche nicht zu  Hause ist, wird diesen Unterschied von unmittelbarem und  mittelbarem, kritischem Realismus für bloße Spitzfindigkeit  halten, zumal sich die Endergebnisse gleichen. Und doch verbirgt sich in ihm eine je andere Erkenntnistheorie, wie sie  Oswald Külpe für den Kritischen Realismus in seinem großartigen dreibändigen Werk: „Die Realisierung“ entworfen  hat, das Vincent Bernings Urteil durchaus rechtfertigt, der  Külpe zu den „bedeutendsten und einflussreichsten Denkern“  seiner Zeit rechnet.6

Es ist hier nicht der Ort, auf diese erkenntnistheoretischen  Fragen einzugehen. Die ausführliche Darstellung Bernings  zeigt zu Genüge, dass Honecker zu ihnen einen ganz entscheidenden Beitrag geleistet hat. Das gilt nicht nur für die  Logik und Erkenntnistheorie, sondern für viele wichtige  Gebiete der Philosophie. Leider haben diese Beiträge nicht  die wünschenswerte Durchschlagskraft gehabt, weil Honecker allzu früh und dann mitten im Krieg (1941) gestorben  ist.

Dafür haben wir aber nun Bernings überaus gründliche  und ausführliche Analyse seiner Gedankenwelt, die auch  denen, die nicht an der Kontroverse um Rahner interessiert  sind, reiche Anregungen, vor allem zur Erkenntnistheorie, zu  geben vermag. Jedenfalls zeigt sich so schlagend genug, wie  ignorant, unsachlich und unqualifiziert Vorgrimlers Abqualifizierung Honeckers gewesen ist, die sich freilich ihrerseits  auf ein ähnliches Verdikt des in Abqualifizierungen ebenfalls  nicht zimperlichen Meisters Rahner selber stützen kann, der  nach einer Mitteilung von J. B. Lotz über Honecker geurteilt  hat: „als ob der überhaupt einen Geist hätte!“7

Dass Honecker weder beschränkt noch engherzig war,  zeigt die wohlwollende, ja massive Förderung, die er den  Arbeiten von Gustav Siewerth, Max Müller und Johann B.  Lotz SJ zuteil werden ließ: führenden katholischen Philosophen der Gegenwart, die alle drei von Honecker auf den Weg  gebracht wurden. Das ist ein seltener, ja in der Universitätsgeschichte unerhörter Vorgang, weil die Schüler schon in diesen ihren frühen Arbeiten, die sie Honecker vorlegten, eine  Richtung einschlugen, die so gar nicht zu seiner Schule des  objektiven und kritischen Realismus passte. Alle drei lassen  schon in diesen Frühschriften den sich gegenseitig verschränkenden Einfluss der Transzendentalphilosophie und Heideggers erkennen, der von der Sache her der ständige Widerpart  Honeckers in Freiburg gewesen ist. Nach Heidegger hat sich  das Sein immer schon in uns gelichtet und somit kann keine  Rede mehr davon sein, dass unser Verstand einerseits tabula  rasa, ein leeres unbeschriebenes Blatt ist, das eben deshalb  offen ist für die Wirklichkeit und andererseits dem Röntgenauge vergleichbar das innere Sein und Wesen der Sache freizulegen vermag. Vielmehr haben wir jetzt schon immer ein  apriorisches Urwissen von der Wirklichkeit und es bedarf der  bekannten Klimmzüge, um es dann mit ihrer tatsächlichen  Erfahrung – „Apriori“ mit „Aposteriori“ zu synchronisieren!

Gustav Siewerth und Max Müller promovierten und habilitierten sich bei Honecker, Lotz promovierte bei ihm. In den  entsprechenden Gutachten Honeckers kommt ebenso die  sachliche Distanz zu seinen Schülern, wie seine Würdigung  ihrer spekulativen Leistung zum Ausdruck, die ihnen niemand werde absprechen wollen. Wie nobel und großzügig  Honecker hierbei verfuhr, zeigt die Feststellung in seinem  Habilitationsgutachten über Max Müller: „Bemerkenswert  war der Freimut, mit dem der Verf. sich gegen einige Punkte  meiner eigentheoretischen und psychologischen Ansichten  wandte“.8

Leider ist der Brief nicht mehr erhalten, in dem Honecker  im Juli 1937 Rahner eröffnete, dass er seine Arbeit nicht als  Dissertation annehmen könne. Dafür aber besitzen wir den  Brief, in dem Rahner seinem Provinzial am 19. 7. 1937 über  den ablehnenden Bescheid Honeckers berichtet und der in  grotesker Widersprüchlichkeit genau das Gegenteil von dem  beweist, was Rahner sagen will! Danach habe ihm Honecker  zwar bescheinigt, dass seine Auffassung „geistreich und interessant“ sei, dennoch halte er seine ganze Thomasdeutung in  Methode und Ergebnis für verfehlt, weil er in einem (für  Honecker) untragbaren Maße moderne Gesichtspunkte in  Thomas hineingetragen habe! Obwohl es also ganz offensichtlich darum gar nicht geht, beklagt Rahner nun in seinem  Brief, dass sich Honecker nicht entschließen könne, „eine  seiner Auffassung ganz widersprechende Arbeit anzunehmen, trotz der oben aufgeführten guten Eigenschaften, die er  notgedrungen anerkennen muss“.9 Aber es geht gar nicht  darum, ob Honecker eine andere Auffassung hat, sondern  darum, ob Rahner dem selbstgesteckten Anspruch gerecht  wird, den er in der Vorbemerkung seiner 1939 dann unter  dem Titel „Geist in Welt“ erschienenen Arbeit selbst formuliert, „von so manchem, was sich ‚Neuscholastik‘ nennt, wegzukommen, zurück zu Thomas selbst“. Das aber ist nun ganz  und gar nicht der Fall, denn mit Thomas hat die Arbeit so  wenig zu tun, dass man noch nicht einmal von radikaler  Umdeutung sprechen mag. Hier urteilt Berning womöglich  noch schärfer als Honecker selbst und als es der Verfasser  dieser Zeilen jedenfalls ausgedrückt hat.10 Widersprüchlich  ist der Brief Rahners aber vor allem deshalb, weil er beklagt,  dass Honecker seine Arbeit ablehne, weil er anderer Meinung  sei, seltsamerweise aber im gleichen Atemzug und unter  Bezugnahme auf Gustav Siewerth darauf hinweist, er habe ja  auch sonst Autoren akzeptiert, die anderer Auffassung seien  als er selbst. Rahner hätte hier auch seinen Mitbruder Lotz  oder auch Max Müller erwähnen können.

Will man die Motive der Ablehnung richtig verstehen,  dann muss man bedenken, dass der frühe Rahner nicht nur,  wie das auch bei Siewerth, Lotz und Müller der Fall war,  inhaltliche Impulse von Heidegger empfing, sondern sich  auch in vollem Maße dessen Programm einer destruktiven  Interpretation der Philosophiegeschichte (und damit auch  Thomas von Aquins) zu eigen macht. Dabei ist der Ausdruck  „Destruktion“ kein Schimpfwort, das Honecker, Berning oder  wir gebrauchen, sondern er stammt von Heidegger selbst, der  schon in „Sein und Zeit“ die „Destruktion der Geschichte der  Ontologie“ fordert.11 Das „Dasein“ (der Mensch) soll sich  von der Verfallenheit an die Welt und seine eigene Tradition  losreißen, um sie (und damit auch die infragestehenden  Texte) von seinem je anderen, weil geschichtlich je neuen  Daseinsentwurf her auszulegen, in dem es sich selbst in je  neuer Weise auf sein Sein hin und damit überhaupt auf ein  neues Seinsverständnis hin entwirft. Daher hat die „existenziale Analyse“ „ständig den Charakter einer Gewaltsamkeit“.12

 Das ist nun genau, wenn auch nicht mit diesen harten Worten, das Programm der Rahnerschen Thomasdeutung, in der  es ihm gar nicht mehr um Thomas geht, sondern um seinen  transzendentalphilosophischen, an Kant, Fichte, Hegel und  Heidegger orientierten Entwurf, den er in Thomas hineinliest.  Man könnte hier mit Recht von einem Etikettenschwindel  sprechen und die Frage stellen, die wir schon als junger  Dozent Ende der fünfziger Jahre bei einer Tagung der Görresgesellschaft in Anwesenheit Max Müllers und bei eisigem  Befremden der zahlreichen anwesenden Heidegger- und Rahner-Adepten gestellt haben. Es sei, so führten wir damals aus,  ganz sicher das gute Recht eines jeden, auch katholischen  Philosophen, seine eigene Philosophie zu entwickeln! Aber  man solle doch endlich mit dem Etikettenschwindel aufhören, dieses philosophische Eigengewächs, das von Kant,  Fichte, Hegel, Heidegger herkommt, als Philosophie des hl.  Thomas auszugeben! Heute würden wir nicht mehr einfach  von „Etikettenschwindel“ sprechen, weil wir mit Berning der  Meinung sind, dass die Sache viel schlimmer ist. Rahner  konnte gar nicht anders als Thomas durch die Brille seiner  Auslegung der menschlichen Erkenntnis sehen, die immer  schon durch den Vorgriff auf das Sein bestimmt ist, wie er es  im Anschluss an die genannten Denker versteht! „Bernhard  Lakebrink hat mit Recht auf diesen Ansatz gewalthafter  Interpretation bei Karl Rahner aufmerksam gemacht und wie  wir hier auf Rahners Vorbild Heidegger hingewiesen“.13

Positiv und mit verschönernden Edelworten entwickelt  Rahner dieses Programm einer Thomas-Interpretation schon  am Anfang von „Geist in Welt“. Jede historische Darstellung  müsse die philosophische Entwicklung mitvollziehen und  sich der Dynamik der Sache von einem bestimmten Ansatz  her (!) überlassen. Dabei sei es natürlich unvermeidbar, „dass  solche bei Thomas gegebenen Ansätze durch das eigene Denken weiter getrieben werden“. Nur so sei „auch das Ewige  einer Philosophie aus der Belanglosigkeit des bloß Gewesenen zu retten“.14 Natürlich kann man diese Sätze richtig verstehen. Doch die Durchführung dieser guten Wünsche und  seines Ansatzes zeigen, dass sie ihn radikal von Thomas wegführt und in diesem Sinne tatsächlich gewaltsam ist.15

Dass Rahner die thomistische Lehre unter Berufung auf  Thomas auf den Kopf gestellt hat, zeigt Berning zusammenfassend, schlüssig, präzise und mit ungeheurer Dichte nochmals ausdrücklich auf den Seiten 434 ff. auf! Die transzendentale Wende, nach der (philosophische) Erkenntnis nicht  mehr Neuentdeckung einer vorher unbekannten Wirklichkeit,  sondern Entfaltung des eigenen Selbstverständnisses und  damit Selbstauslegung des erkennenden Subjektes ist, kommt  schon gleich zu Beginn von „Geist in Welt“ zum Ausdruck,  wo Rahner feststellt, „dass ... in der Metaphysik ... überhaupt  nicht etwas entdeckt wird, was man vorher nicht wusste, sondern das Verständnis, das der Mensch immer schon von sich  hat, weil er Mensch ist, zu sich selber gebracht wird“.16 In  diesem Sinne wird der thomistische Gedanke von der Konnaturalität, d. h. der tiefen Verwandtschaft zwischen dem erkennenden Geist und dem Sein in die Behauptung verwandelt,  dass Erkennen und Gegenstand in ursprünglicher Weise eins  seien und zwar so, dass der Geist im apriorischen Vor- oder  Ausgriff immer schon das Sein und damit die Grundverfassung der Wirklichkeit entwirft, die er nachher ausdrücklich  erkennt! Mit Recht bemerkt Berning dazu: „Diese Subjekt-Objekt-Identität als vorgreifende Transzendentalität des  menschlichen Geistes im Erkenntnisakt anzusehen, ist mit  dem thomasischen Verständnis des konnaturalen Verhältnisses von seiendem Gegenstand und menschlicher Erkenntnis  völlig unvereinbar.17

Wenn so Metaphysik nicht die Entfaltung des vor uns liegenden Seins der Dinge, sondern im Gegenteil die des Beisichseins des Menschen ist, dann muss der aristotelisch-thomistische Satz, dass die Seele, der erkennende Geist gewissermaßen alles sei, radikal umgedeutet werden. Gemeint ist  nun nicht mehr, dass das Sein und damit alles Seiende das  eigentümliche Objekt des menschlichen Geistes ist und er  somit als „möglicher Verstand“, wie ihn Thomas nennt, grenzenlos offen ist für die Wirklichkeit.18 Ganz im Gegenteil und  in striktem Gegensatz zu dieser Offenheit weiß er immer  schon und das aus sich selbst oder „a priori“, d. h. von vorneherein um das Sein im ganzen Bescheid. Denn, so Rahner,  wie könnte er sonst danach fragen!19 Umgekehrt könnte man  sagen: warum sollte er noch, wenn er immer schon Bescheid  weiß?  

Doch bis hierhin könnte man bei einigem guten Willen  Rahners Ausgangspunkt noch mit dem der anderen Honecker-Schüler Siewerth, Lotz und Müller vergleichen, die ja  ebenfalls, wie schon angedeutet, von einem apriorischen  Seinsverständnis ausgehen, das wir je schon mitbringen.  Während dieses aber bei ihnen immerhin – man sieht freilich  nicht, was solche Verdoppelung bringen soll! – der Eröffnung  des Seins der Wirklichkeit dient und damit zur Not noch mit  dem Realismus des hl. Thomas in Einklang gebracht werden  kann, dient es bei Rahner der Konstruktion der Welt aus eigenen Prinzipien heraus, in der sich das erkennende Subjekt  immer nur selbst wiederfindet. Zwar ist der Geist nach Rahner auf die Sinnesdinge und Sinnesbilder (phantasmata), also  auf die Anschauung der Sinne verwiesen. Aber sie dient wiederum nur dazu, dass er sich seines eigenen Beisichseins und  seines Vorgriffs auf das Sein bewusst wird. Denn „es geht  dabei nicht so sehr um das Angekommensein beim Hier und  Jetzt dieser Welt, sondern um das Herkommen vom Sein im  Ganzen“.20 Und zudem erhalten die Sinnesdinge ihre Form  und Prägung, die sie erst erkennbar macht, schon von diesem  Vorentwurf her und „die faktisch gegen Thomas gerichtete  Tendenz Rahners wird schon dadurch deutlich, dass es für die  Menschen nicht darum geht, zur sinnenhaften Anschauung  der Welt zu gelangen ... sondern sich am Zwang zur Hinwendung zu den Sinnesbildern metaphysisch fragend für die  immanent aufsteigende Rückkehr des Bewusstseins zum Sein  im Ganzen zu qualifizieren“.21

Rahner geht noch weiter und lässt nicht nur die Sinnlichkeit und das Sinnenbild auf mystische Weise aus dem Geist  entspringen,22 sondern auch das geistige Erkenntnisbild, die  species intelligibilis, mit dessen Hilfe wir das Wesen der  Dinge erkennen. So schreibt er: „Diese Auffassung der species intelligibilis als der Selbstbestimmung des freien  Geistes lässt sich auch ausdrücklich bei Thomas nachweisen“,23 wozu Berning mit Recht bemerkt: „Belege für diese  Behauptung bietet Rahner allerdings nicht“.24 Mit der ihm  eigenen Verhaltenheit bringt Joseph de Vries die Probleme  auf den Punkt, wenn er in der Rezension von „Geist in Welt“  seinen Mitbruder fragt, ob das erste Erfassen des Seins der  Dinge, wie dieser behauptet, im Hineinbilden eines apriorischen Elementes (eines Urwissens, welches das Subjekt  schon mitbringt) in das Sinnesbild bestehen könne! „Muss  nicht“, so de Vries, „die ursprüngliche Seinserkenntnis vielmehr ein Vorfinden des Seins eines Seienden sein?“.25 Urs  von Balthasar wird deutlicher und das mit Recht, wenn er  Rahner in der Nachfolge Fichtes sieht, der Erkenntnis in radikal idealistischem Sinne als Selbstentfaltung des denkenden  Ich versteht und die Welt nur als Material seiner Selbstverwirklichung.26 Hier kann man dann tatsächlich von einer  „christlichen Anthropozentrik“ sprechen, wie sie dann später  J. B. Metz als nachkonziliares Programm beschwor.

Auch darin stimmen wir Berning zu, dass schon Rahners  Erkenntnislehre die Grenzen zwischen Endlichem und  Unendlichem in bedenklicher Weise verwischt und somit hier  schon jenes Ineinanderfließen von Natur und Übernatur oder  Gnade vorbereitet wird, das für seine Theologie charakteristisch ist. Schon in unserer ausführlichen Rahner-Kritik, die  wir zum ersten Mal in der „Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie“27 und sodann in „Wesenseinsicht  und Transzendentalphilosophie“ vorlegten, wiesen wir darauf  hin, dass es bedenklich unklar bleibt, auf welches Sein sich  der Rahnersche apriorische Vorgriff bezieht, der uns dazu  verhelfen soll, dass wir immer schon über das Sein im Ganzen und damit die Wirklichkeit Bescheid wissen: auf das  „Sein überhaupt“ oder das göttliche Sein als die Fülle des  Seins schlechthin. Aber wenn das Wesen des Geistes darin  besteht, dass er sich selbst auf das Sein hin überschreitet,  dann ist damit implizit immer schon das Sein Gottes gemeint,  der mithin je schon in unserem Geiste gegenwärtig ist.

Für diese Konsequenz spricht auch, dass Rahner nicht nur  von Kant, vom Deutschen Idealismus und von Heidegger,  sondern mehr noch von seinem berühmten belgischen Mitbruder Joseph Maréchal abhängig ist,28 der den geistigen Vorgriff auf das Sein, der unsere Erkenntnis allererst ermöglichen soll, mit dem Streben zu Gott hin gleichsetzt, worin ihm  Rahner ganz offensichtlich folgt.29 Wenn aber dieses apriorische Wissen um das Sein Wissen um Gott ist, dann ist die  Offenbarung nur die weitere Entfaltung dieses Urwissens und  damit dessen, was schon in unserem Menschsein angelegt ist.  Und diese Konsequenz hat dann Rahner auch tatsächlich  gezogen.30

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1 Vincent Berning: Martin Honecker. Auf dem Wege von der Logik zur Metaphysik. Die Grundzüge seines kritisch-realistischen Denkens. Gustav Siewerth-Akademie 2003 551. S. 

2 Deutsche Tagespost v. 5./6. Juni 1964. Vgl. dazu auch Walter Hoeres: Die neue Seinsmystik und der hl. Thomas v. Aquin. Zu der „Christlichen Anthropozentrik“ von J. B. Metz, in: Deutsche Tagespost v. 24. 10. 1962 S. 8. Vgl. auch zum polemischen Stil der Rahner-Schüler: Walter Hoeres: Nachtwächter und Psychopathen. In: Zwischen Diagnose und Therapie (Respondeo 14) Siegburg 2001 S. 51 ff.

3 Herbert Vorgrimler: Karl Rahner. Zürich 1963. Zit nach Berning a.a.O. S. 462.

4 Thomas v. Aquin Quodl. V. 9 ad 2.

5 Josephus Gredt: Elementa Philosophiae II. Freiburg 1956 S. 82.

6 Berning a.a.O. S. 61.

7 Vgl. Berning S. 414.

8 Nach Berning S. 373.

9 Zit nach Berning S. 401.

10 Vgl. Berning S. 455 f.: „Hoeres arbeitet mit subtilen .... Methoden heraus,  dass sich Kantische Transzendentalphilosophie und neuscholastische  Erkenntnislehre und Metaphysik nicht miteinander vermitteln lassen. Als  vermittelnde Schüler Maréchals SJ nennt er die Jesuiten Rahner, J. B. Lotz,  E. Coreth und O. Muck. Hoeres Kennzeichnung des Rahnerschen Ansatzes  als einen ‚Versuch, die beiden konträren Positionen Kants und Thomas von  Aquins zu vermitteln‘, klingt – gemessen an seiner eigenen zutreffenden  Beurteilung zu harmlos. Hier handelt es sich nicht um eine Vermittlung, sondern um eine radikale Uminterpretation der Thomasischen Erkenntnislehre“.  Vgl. dazu neuerdings Walter Hoeres: Wesenseinsicht und Transzendentalphilosophie. Thomas von Aquin zwischen Rahner und Kant. Questiones Non  Disputatae V. Siegburg 2001.

11 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1963 § 6.

12 A.a.O. S. 311.

13 Berning S. 415; vgl. Bernhard Lakebrink: Die Wahrheit in Bedrängnis. Stein  am Rhein 1986 S. 7.

14 Rahner: Geist in Welt. Innsbruck 1939, XI f.

15 Selbst der wohlwollende, weil selbst von Heidegger inspirierte Max Müller  weist daraufhin, „dass nur Rahners Arbeit eine radikal existenzial-anthropologische Ausdeutung der thomasischen Erkenntnislehre vornimmt, während  das für Lotz, Siewerth und Müller nicht gelte, weil diese sich trotz ihrer  jeweiligen Neuansätze stärker den großen spekulativen abendländischen  Metaphysik-Tradition, in welche Thomas hineingehöre, zu orientieren  suchen“. Nach Berning S. 493. Vgl. dazu M. Müller, in: P. Imhoff/H. Bialowons (Hrsg.): Karl Rahner. Bilder seines Lebens. Zürich/Köln 1985 S. 28 f.

16 Geist in Welt, a.a.O. S. 17.

17 Berning S. 435.

18 Vgl. unser Werk: Offenheit und Distanz (Berlin 1993), das diese Lehre vom  Intellekt, der zu Beginn der Erkenntnis wie ein leeres, unbeschriebenes Blatt  ist, konsequent weiterführt und in ihrer anthropologischen Bedeutung zu analysieren sucht.

19 Rahner a.a.O. S. 35.

20 A.a.O. S. 39.

21 Berning S. 437.

22 Berning charakterisiert diesen Ursprung treffend: „Der menschliche Geist  bedarf der sinnenhaften Materie, um aktiv die Sinnlichkeit als Vermögen aus  sich zu entlassen, indem er die Materie als solche erst bestimmend realisiert“.  A.a.O. S. 453.

23 Rahner a.a.O. S. 278.

24 Berning S. 443.

25 In: Scholastik XV (1940) S. 408.

26 Urs v. Balthasar: Rezension von Rahners „Geist in Welt“ in: Ztschr. f. Kath.  Theologie Innsbruck 1939, S. 375.

27 Stuttgart 1969.

28 Vgl. Joseph Maréchal: Le point de départ de la métaphysique. Cahier 5: Le  Thomisme devant la Philosophie critique. 2. Aufl. Brüssel-Paris 1949; vgl.  dazu Engelbert Wingendorf: Das Dynamische in der menschlichen Erkenntnis. Maréchal, ein neuer Lösungsversuch des erkenntnistheoretischen Grundproblems. Bonn Bd. 1 1939, Bd. 2 1940.

29 Vgl. Rahner: Geist in Welt a.a.O. S. 203; Hörer des Wortes, München 1941 S. 109, 118, 182 und Berning S. 444.

30 Vgl. dazu Giuseppe Card. Siri:Gethsemani. Überlegungen zur theologischen  Bewegung unserer Zeit. Aschaffenburg 1982; Berhard Lakebrink: Die Wahrheit in Bedrängnis. Stein am Rhein 1986; David Berger: Natur und Gnade in  systematischer Theologie und Religionspädagogik von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Regensburg 1998.