Der veruntreute Thomas - Rahners Fehlstart in Freiburg
Walter Hoeres
Neue theologische Lehrmeinungen und Ansichten des Glaubens, auch Häresien, gründen immer auch in einer ganz bestimmten philosophischen Sicht der Dinge. So zeigt uns die Kirchengeschichte, dass man das berühmte Wort, nach dem die Philosophie ancilla philosophiae (Magd der Theologie) ist, allzu oft dahingehend erweitern muss, dass sie ihre seductrix, Verführerin der Theologie gewesen ist – und immer noch ist! In diesem Sinne ist auch das Erdbeben, das Rahner ausgelöst hat und das in der Nachkonzilszeit die Kirche weit über den Kreis der theologischen Fachleute ergriffen hat, schon in dem großangelegten frühen philosophischen Entwurf angelegt, mit dem er 1937 vergeblich bei Martin Honecker (1888–1941) in Freiburg zu promovieren suchte und der dann – „re infecta“ – 1939 in Innsbruck unter dem Titel „Geist in Welt“ als Buch erschien.
Bedenkt man die ungeheure Resonanz und Wirkung Rahners, dann ist die Ablehnung dieses Werkes durch Honecker ein geistesgeschichtliches Ereignis, das ein bezeichnendes Schlaglicht wirft auf die Sprengkraft der Ideen, die sich schon beim frühen Rahner finden. Das ist auch die Auffassung des bekannten Aachener Philosophen Vincent Berning, der uns genau richtig zum Rahner-Jubiläum eine großangelegte, philosophisch profunde Monographie über Martin Honecker vorlegt, in der den Vorgängen um jene Ablehnung aufs sorgfältigste nicht nur in historisch dokumentierender, sondern – eben! – vor allem auch in philosophisch und theologisch absolut kompetenter Weise nachgegangen wird.1
Die Untersuchung von Berning ist umso mehr zu begrüßen, als von Seiten der Rahner-Gemeinde die Ablehnung seiner Arbeit durch Honecker mit der Schmähkritik begründet wurde, dieser sei als mediokrer Kopf der Genialität der Rahnerschen Gedankengänge nicht gewachsen gewesen. Es ist ja bekannt und der Verfasser dieser Zeilen musste es schon als junger Hochschullehrer erfahren, dass jede Kritik an Rahner oder seinen Schülern einem Stich ins Wespennest gleicht. Wer es wagt, den geradezu mystischen Rahner-Kult kritisch zu hinterfragen, muss auf die wütende Reaktion seiner Gemeinde gefasst sein. So gab der wohl bekannteste Schüler und enge Vertraute Rahners, Herbert Vorgrimler, seinerzeit in der „Tagespost“ das vernichtende Urteil über mich ab: „Dieser Herr Hoeres, der in Freiburg künftige Erzieher unterrichtet, hat 1962 versucht, in der ‚Deutschen Tagespost‘ mit Hilfe der Enzyklika ‚Humani generis‘ Johannes Baptist Metz anzuschießen. Erst mit diesem Herrn Hoeres rundet sich das Bild ganz ab“.2 Und das weil ich es gewagt hatte, in der gleichen Zeitung die „Christliche Anthropozentrik“ des Rahner Schülers J. B. Metz einer scharfen Kritik zu unterziehen.
In dieser vernichtenden Weise urteilt Vorgrimler auch über Honecker, den er als „schlichten und beschränkten Vertreter jener Neuscholastik“ bezeichnet, die mit Thomas von Aquin nicht mehr zu tun habe „als die Existenzialistenbärte von Montmartre mit der Existenzphilosophie“.3 Berning weist nun nach, dass es sich hier in zweifacher Weise um ein absurdes Fehlurteil handelt. Einmal war Honecker gar kein Vertreter der Neuscholastik und sodann ein Philosoph von hohen Graden.
Honecker kam als Schüler Oswald Külpes (1862–1915) und Adolf Dyroffs (1866–1943) vom Kritischen Realismus her, den er selbst zeitlebens und in großangelegten Synthesen vertreten hat. Dieser trifft sich zwar in einem entscheidenden Punkt, nämlich in der Anerkennung der Tatsache, dass unsere Erkenntnis die subjektunabhängige Außenwelt erreicht, wie sie in sich ist, mit der Scholastik und damit auch der Neuscholastik. Aber der Weg, wie dieser Anspruch begründet wird, ist ein ganz anderer und das hat Honecker denn auch immer in deutlicher Abgrenzung zur Neuscholastik betont. Aristoteles, Thomas von Aquin und mit ihm der größte Teil der Scholastik wie übrigens auch der modernen Phänomenologie lehren, dass uns die Außenwelt unmittelbar in sich selbst gegeben ist und zwar deshalb, weil die Sinnesdinge unmittelbar auf das Sinnesvermögen einwirken: „per solam immutationem sensus ab sensibili“.4 Plastisch und in einer in der Scholastik durchaus geläufigen Form drückt das der bekannte Neuscholastiker Joseph Gredt so aus, dass unsere äußeren Sinne (und damit auch unsere geistige Erkenntnis, die in ihnen gegenwärtig ist) „immediate attingunt obiecta“: dass sie ihre Objekte unmittelbar berühren.5 Der Kritische Realismus hingegen geht davon aus, dass uns zunächst nur das intentionale Bewusstsein der Dinge und der Außenwelt gegeben ist, das durch einen Kausalschluss auf sie bezogen und als in ihr begründet und somit gerechtfertigt werden kann. Sodass wir also keine unmittelbare, sondern nur mittelbare Gewissheit von ihr besitzen.
Der unbefangene Leser, der in der philosophischen Diskussion dieser nun schon vergangenen Epoche nicht zu Hause ist, wird diesen Unterschied von unmittelbarem und mittelbarem, kritischem Realismus für bloße Spitzfindigkeit halten, zumal sich die Endergebnisse gleichen. Und doch verbirgt sich in ihm eine je andere Erkenntnistheorie, wie sie Oswald Külpe für den Kritischen Realismus in seinem großartigen dreibändigen Werk: „Die Realisierung“ entworfen hat, das Vincent Bernings Urteil durchaus rechtfertigt, der Külpe zu den „bedeutendsten und einflussreichsten Denkern“ seiner Zeit rechnet.6
Es ist hier nicht der Ort, auf diese erkenntnistheoretischen Fragen einzugehen. Die ausführliche Darstellung Bernings zeigt zu Genüge, dass Honecker zu ihnen einen ganz entscheidenden Beitrag geleistet hat. Das gilt nicht nur für die Logik und Erkenntnistheorie, sondern für viele wichtige Gebiete der Philosophie. Leider haben diese Beiträge nicht die wünschenswerte Durchschlagskraft gehabt, weil Honecker allzu früh und dann mitten im Krieg (1941) gestorben ist.
Dafür haben wir aber nun Bernings überaus gründliche und ausführliche Analyse seiner Gedankenwelt, die auch denen, die nicht an der Kontroverse um Rahner interessiert sind, reiche Anregungen, vor allem zur Erkenntnistheorie, zu geben vermag. Jedenfalls zeigt sich so schlagend genug, wie ignorant, unsachlich und unqualifiziert Vorgrimlers Abqualifizierung Honeckers gewesen ist, die sich freilich ihrerseits auf ein ähnliches Verdikt des in Abqualifizierungen ebenfalls nicht zimperlichen Meisters Rahner selber stützen kann, der nach einer Mitteilung von J. B. Lotz über Honecker geurteilt hat: „als ob der überhaupt einen Geist hätte!“7
Dass Honecker weder beschränkt noch engherzig war, zeigt die wohlwollende, ja massive Förderung, die er den Arbeiten von Gustav Siewerth, Max Müller und Johann B. Lotz SJ zuteil werden ließ: führenden katholischen Philosophen der Gegenwart, die alle drei von Honecker auf den Weg gebracht wurden. Das ist ein seltener, ja in der Universitätsgeschichte unerhörter Vorgang, weil die Schüler schon in diesen ihren frühen Arbeiten, die sie Honecker vorlegten, eine Richtung einschlugen, die so gar nicht zu seiner Schule des objektiven und kritischen Realismus passte. Alle drei lassen schon in diesen Frühschriften den sich gegenseitig verschränkenden Einfluss der Transzendentalphilosophie und Heideggers erkennen, der von der Sache her der ständige Widerpart Honeckers in Freiburg gewesen ist. Nach Heidegger hat sich das Sein immer schon in uns gelichtet und somit kann keine Rede mehr davon sein, dass unser Verstand einerseits tabula rasa, ein leeres unbeschriebenes Blatt ist, das eben deshalb offen ist für die Wirklichkeit und andererseits dem Röntgenauge vergleichbar das innere Sein und Wesen der Sache freizulegen vermag. Vielmehr haben wir jetzt schon immer ein apriorisches Urwissen von der Wirklichkeit und es bedarf der bekannten Klimmzüge, um es dann mit ihrer tatsächlichen Erfahrung – „Apriori“ mit „Aposteriori“ zu synchronisieren!
Gustav Siewerth und Max Müller promovierten und habilitierten sich bei Honecker, Lotz promovierte bei ihm. In den entsprechenden Gutachten Honeckers kommt ebenso die sachliche Distanz zu seinen Schülern, wie seine Würdigung ihrer spekulativen Leistung zum Ausdruck, die ihnen niemand werde absprechen wollen. Wie nobel und großzügig Honecker hierbei verfuhr, zeigt die Feststellung in seinem Habilitationsgutachten über Max Müller: „Bemerkenswert war der Freimut, mit dem der Verf. sich gegen einige Punkte meiner eigentheoretischen und psychologischen Ansichten wandte“.8
Leider ist der Brief nicht mehr erhalten, in dem Honecker im Juli 1937 Rahner eröffnete, dass er seine Arbeit nicht als Dissertation annehmen könne. Dafür aber besitzen wir den Brief, in dem Rahner seinem Provinzial am 19. 7. 1937 über den ablehnenden Bescheid Honeckers berichtet und der in grotesker Widersprüchlichkeit genau das Gegenteil von dem beweist, was Rahner sagen will! Danach habe ihm Honecker zwar bescheinigt, dass seine Auffassung „geistreich und interessant“ sei, dennoch halte er seine ganze Thomasdeutung in Methode und Ergebnis für verfehlt, weil er in einem (für Honecker) untragbaren Maße moderne Gesichtspunkte in Thomas hineingetragen habe! Obwohl es also ganz offensichtlich darum gar nicht geht, beklagt Rahner nun in seinem Brief, dass sich Honecker nicht entschließen könne, „eine seiner Auffassung ganz widersprechende Arbeit anzunehmen, trotz der oben aufgeführten guten Eigenschaften, die er notgedrungen anerkennen muss“.9 Aber es geht gar nicht darum, ob Honecker eine andere Auffassung hat, sondern darum, ob Rahner dem selbstgesteckten Anspruch gerecht wird, den er in der Vorbemerkung seiner 1939 dann unter dem Titel „Geist in Welt“ erschienenen Arbeit selbst formuliert, „von so manchem, was sich ‚Neuscholastik‘ nennt, wegzukommen, zurück zu Thomas selbst“. Das aber ist nun ganz und gar nicht der Fall, denn mit Thomas hat die Arbeit so wenig zu tun, dass man noch nicht einmal von radikaler Umdeutung sprechen mag. Hier urteilt Berning womöglich noch schärfer als Honecker selbst und als es der Verfasser dieser Zeilen jedenfalls ausgedrückt hat.10 Widersprüchlich ist der Brief Rahners aber vor allem deshalb, weil er beklagt, dass Honecker seine Arbeit ablehne, weil er anderer Meinung sei, seltsamerweise aber im gleichen Atemzug und unter Bezugnahme auf Gustav Siewerth darauf hinweist, er habe ja auch sonst Autoren akzeptiert, die anderer Auffassung seien als er selbst. Rahner hätte hier auch seinen Mitbruder Lotz oder auch Max Müller erwähnen können.
Will man die Motive der Ablehnung richtig verstehen, dann muss man bedenken, dass der frühe Rahner nicht nur, wie das auch bei Siewerth, Lotz und Müller der Fall war, inhaltliche Impulse von Heidegger empfing, sondern sich auch in vollem Maße dessen Programm einer destruktiven Interpretation der Philosophiegeschichte (und damit auch Thomas von Aquins) zu eigen macht. Dabei ist der Ausdruck „Destruktion“ kein Schimpfwort, das Honecker, Berning oder wir gebrauchen, sondern er stammt von Heidegger selbst, der schon in „Sein und Zeit“ die „Destruktion der Geschichte der Ontologie“ fordert.11 Das „Dasein“ (der Mensch) soll sich von der Verfallenheit an die Welt und seine eigene Tradition losreißen, um sie (und damit auch die infragestehenden Texte) von seinem je anderen, weil geschichtlich je neuen Daseinsentwurf her auszulegen, in dem es sich selbst in je neuer Weise auf sein Sein hin und damit überhaupt auf ein neues Seinsverständnis hin entwirft. Daher hat die „existenziale Analyse“ „ständig den Charakter einer Gewaltsamkeit“.12
Das ist nun genau, wenn auch nicht mit diesen harten Worten, das Programm der Rahnerschen Thomasdeutung, in der es ihm gar nicht mehr um Thomas geht, sondern um seinen transzendentalphilosophischen, an Kant, Fichte, Hegel und Heidegger orientierten Entwurf, den er in Thomas hineinliest. Man könnte hier mit Recht von einem Etikettenschwindel sprechen und die Frage stellen, die wir schon als junger Dozent Ende der fünfziger Jahre bei einer Tagung der Görresgesellschaft in Anwesenheit Max Müllers und bei eisigem Befremden der zahlreichen anwesenden Heidegger- und Rahner-Adepten gestellt haben. Es sei, so führten wir damals aus, ganz sicher das gute Recht eines jeden, auch katholischen Philosophen, seine eigene Philosophie zu entwickeln! Aber man solle doch endlich mit dem Etikettenschwindel aufhören, dieses philosophische Eigengewächs, das von Kant, Fichte, Hegel, Heidegger herkommt, als Philosophie des hl. Thomas auszugeben! Heute würden wir nicht mehr einfach von „Etikettenschwindel“ sprechen, weil wir mit Berning der Meinung sind, dass die Sache viel schlimmer ist. Rahner konnte gar nicht anders als Thomas durch die Brille seiner Auslegung der menschlichen Erkenntnis sehen, die immer schon durch den Vorgriff auf das Sein bestimmt ist, wie er es im Anschluss an die genannten Denker versteht! „Bernhard Lakebrink hat mit Recht auf diesen Ansatz gewalthafter Interpretation bei Karl Rahner aufmerksam gemacht und wie wir hier auf Rahners Vorbild Heidegger hingewiesen“.13
Positiv und mit verschönernden Edelworten entwickelt Rahner dieses Programm einer Thomas-Interpretation schon am Anfang von „Geist in Welt“. Jede historische Darstellung müsse die philosophische Entwicklung mitvollziehen und sich der Dynamik der Sache von einem bestimmten Ansatz her (!) überlassen. Dabei sei es natürlich unvermeidbar, „dass solche bei Thomas gegebenen Ansätze durch das eigene Denken weiter getrieben werden“. Nur so sei „auch das Ewige einer Philosophie aus der Belanglosigkeit des bloß Gewesenen zu retten“.14 Natürlich kann man diese Sätze richtig verstehen. Doch die Durchführung dieser guten Wünsche und seines Ansatzes zeigen, dass sie ihn radikal von Thomas wegführt und in diesem Sinne tatsächlich gewaltsam ist.15
Dass Rahner die thomistische Lehre unter Berufung auf Thomas auf den Kopf gestellt hat, zeigt Berning zusammenfassend, schlüssig, präzise und mit ungeheurer Dichte nochmals ausdrücklich auf den Seiten 434 ff. auf! Die transzendentale Wende, nach der (philosophische) Erkenntnis nicht mehr Neuentdeckung einer vorher unbekannten Wirklichkeit, sondern Entfaltung des eigenen Selbstverständnisses und damit Selbstauslegung des erkennenden Subjektes ist, kommt schon gleich zu Beginn von „Geist in Welt“ zum Ausdruck, wo Rahner feststellt, „dass ... in der Metaphysik ... überhaupt nicht etwas entdeckt wird, was man vorher nicht wusste, sondern das Verständnis, das der Mensch immer schon von sich hat, weil er Mensch ist, zu sich selber gebracht wird“.16 In diesem Sinne wird der thomistische Gedanke von der Konnaturalität, d. h. der tiefen Verwandtschaft zwischen dem erkennenden Geist und dem Sein in die Behauptung verwandelt, dass Erkennen und Gegenstand in ursprünglicher Weise eins seien und zwar so, dass der Geist im apriorischen Vor- oder Ausgriff immer schon das Sein und damit die Grundverfassung der Wirklichkeit entwirft, die er nachher ausdrücklich erkennt! Mit Recht bemerkt Berning dazu: „Diese Subjekt-Objekt-Identität als vorgreifende Transzendentalität des menschlichen Geistes im Erkenntnisakt anzusehen, ist mit dem thomasischen Verständnis des konnaturalen Verhältnisses von seiendem Gegenstand und menschlicher Erkenntnis völlig unvereinbar.17
Wenn so Metaphysik nicht die Entfaltung des vor uns liegenden Seins der Dinge, sondern im Gegenteil die des Beisichseins des Menschen ist, dann muss der aristotelisch-thomistische Satz, dass die Seele, der erkennende Geist gewissermaßen alles sei, radikal umgedeutet werden. Gemeint ist nun nicht mehr, dass das Sein und damit alles Seiende das eigentümliche Objekt des menschlichen Geistes ist und er somit als „möglicher Verstand“, wie ihn Thomas nennt, grenzenlos offen ist für die Wirklichkeit.18 Ganz im Gegenteil und in striktem Gegensatz zu dieser Offenheit weiß er immer schon und das aus sich selbst oder „a priori“, d. h. von vorneherein um das Sein im ganzen Bescheid. Denn, so Rahner, wie könnte er sonst danach fragen!19 Umgekehrt könnte man sagen: warum sollte er noch, wenn er immer schon Bescheid weiß?
Doch bis hierhin könnte man bei einigem guten Willen Rahners Ausgangspunkt noch mit dem der anderen Honecker-Schüler Siewerth, Lotz und Müller vergleichen, die ja ebenfalls, wie schon angedeutet, von einem apriorischen Seinsverständnis ausgehen, das wir je schon mitbringen. Während dieses aber bei ihnen immerhin – man sieht freilich nicht, was solche Verdoppelung bringen soll! – der Eröffnung des Seins der Wirklichkeit dient und damit zur Not noch mit dem Realismus des hl. Thomas in Einklang gebracht werden kann, dient es bei Rahner der Konstruktion der Welt aus eigenen Prinzipien heraus, in der sich das erkennende Subjekt immer nur selbst wiederfindet. Zwar ist der Geist nach Rahner auf die Sinnesdinge und Sinnesbilder (phantasmata), also auf die Anschauung der Sinne verwiesen. Aber sie dient wiederum nur dazu, dass er sich seines eigenen Beisichseins und seines Vorgriffs auf das Sein bewusst wird. Denn „es geht dabei nicht so sehr um das Angekommensein beim Hier und Jetzt dieser Welt, sondern um das Herkommen vom Sein im Ganzen“.20 Und zudem erhalten die Sinnesdinge ihre Form und Prägung, die sie erst erkennbar macht, schon von diesem Vorentwurf her und „die faktisch gegen Thomas gerichtete Tendenz Rahners wird schon dadurch deutlich, dass es für die Menschen nicht darum geht, zur sinnenhaften Anschauung der Welt zu gelangen ... sondern sich am Zwang zur Hinwendung zu den Sinnesbildern metaphysisch fragend für die immanent aufsteigende Rückkehr des Bewusstseins zum Sein im Ganzen zu qualifizieren“.21
Rahner geht noch weiter und lässt nicht nur die Sinnlichkeit und das Sinnenbild auf mystische Weise aus dem Geist entspringen,22 sondern auch das geistige Erkenntnisbild, die species intelligibilis, mit dessen Hilfe wir das Wesen der Dinge erkennen. So schreibt er: „Diese Auffassung der species intelligibilis als der Selbstbestimmung des freien Geistes lässt sich auch ausdrücklich bei Thomas nachweisen“,23 wozu Berning mit Recht bemerkt: „Belege für diese Behauptung bietet Rahner allerdings nicht“.24 Mit der ihm eigenen Verhaltenheit bringt Joseph de Vries die Probleme auf den Punkt, wenn er in der Rezension von „Geist in Welt“ seinen Mitbruder fragt, ob das erste Erfassen des Seins der Dinge, wie dieser behauptet, im Hineinbilden eines apriorischen Elementes (eines Urwissens, welches das Subjekt schon mitbringt) in das Sinnesbild bestehen könne! „Muss nicht“, so de Vries, „die ursprüngliche Seinserkenntnis vielmehr ein Vorfinden des Seins eines Seienden sein?“.25 Urs von Balthasar wird deutlicher und das mit Recht, wenn er Rahner in der Nachfolge Fichtes sieht, der Erkenntnis in radikal idealistischem Sinne als Selbstentfaltung des denkenden Ich versteht und die Welt nur als Material seiner Selbstverwirklichung.26 Hier kann man dann tatsächlich von einer „christlichen Anthropozentrik“ sprechen, wie sie dann später J. B. Metz als nachkonziliares Programm beschwor.
Auch darin stimmen wir Berning zu, dass schon Rahners Erkenntnislehre die Grenzen zwischen Endlichem und Unendlichem in bedenklicher Weise verwischt und somit hier schon jenes Ineinanderfließen von Natur und Übernatur oder Gnade vorbereitet wird, das für seine Theologie charakteristisch ist. Schon in unserer ausführlichen Rahner-Kritik, die wir zum ersten Mal in der „Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie“27 und sodann in „Wesenseinsicht und Transzendentalphilosophie“ vorlegten, wiesen wir darauf hin, dass es bedenklich unklar bleibt, auf welches Sein sich der Rahnersche apriorische Vorgriff bezieht, der uns dazu verhelfen soll, dass wir immer schon über das Sein im Ganzen und damit die Wirklichkeit Bescheid wissen: auf das „Sein überhaupt“ oder das göttliche Sein als die Fülle des Seins schlechthin. Aber wenn das Wesen des Geistes darin besteht, dass er sich selbst auf das Sein hin überschreitet, dann ist damit implizit immer schon das Sein Gottes gemeint, der mithin je schon in unserem Geiste gegenwärtig ist.
Für diese Konsequenz spricht auch, dass Rahner nicht nur von Kant, vom Deutschen Idealismus und von Heidegger, sondern mehr noch von seinem berühmten belgischen Mitbruder Joseph Maréchal abhängig ist,28 der den geistigen Vorgriff auf das Sein, der unsere Erkenntnis allererst ermöglichen soll, mit dem Streben zu Gott hin gleichsetzt, worin ihm Rahner ganz offensichtlich folgt.29 Wenn aber dieses apriorische Wissen um das Sein Wissen um Gott ist, dann ist die Offenbarung nur die weitere Entfaltung dieses Urwissens und damit dessen, was schon in unserem Menschsein angelegt ist. Und diese Konsequenz hat dann Rahner auch tatsächlich gezogen.30
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1 Vincent Berning: Martin Honecker. Auf dem Wege von der Logik zur Metaphysik. Die Grundzüge seines kritisch-realistischen Denkens. Gustav Siewerth-Akademie 2003 551. S.
2 Deutsche Tagespost v. 5./6. Juni 1964. Vgl. dazu auch Walter Hoeres: Die neue Seinsmystik und der hl. Thomas v. Aquin. Zu der „Christlichen Anthropozentrik“ von J. B. Metz, in: Deutsche Tagespost v. 24. 10. 1962 S. 8. Vgl. auch zum polemischen Stil der Rahner-Schüler: Walter Hoeres: Nachtwächter und Psychopathen. In: Zwischen Diagnose und Therapie (Respondeo 14) Siegburg 2001 S. 51 ff.
3 Herbert Vorgrimler: Karl Rahner. Zürich 1963. Zit nach Berning a.a.O. S. 462.
4 Thomas v. Aquin Quodl. V. 9 ad 2.
5 Josephus Gredt: Elementa Philosophiae II. Freiburg 1956 S. 82.
6 Berning a.a.O. S. 61.
7 Vgl. Berning S. 414.
8 Nach Berning S. 373.
9 Zit nach Berning S. 401.
10 Vgl. Berning S. 455 f.: „Hoeres arbeitet mit subtilen .... Methoden heraus, dass sich Kantische Transzendentalphilosophie und neuscholastische Erkenntnislehre und Metaphysik nicht miteinander vermitteln lassen. Als vermittelnde Schüler Maréchals SJ nennt er die Jesuiten Rahner, J. B. Lotz, E. Coreth und O. Muck. Hoeres Kennzeichnung des Rahnerschen Ansatzes als einen ‚Versuch, die beiden konträren Positionen Kants und Thomas von Aquins zu vermitteln‘, klingt – gemessen an seiner eigenen zutreffenden Beurteilung zu harmlos. Hier handelt es sich nicht um eine Vermittlung, sondern um eine radikale Uminterpretation der Thomasischen Erkenntnislehre“. Vgl. dazu neuerdings Walter Hoeres: Wesenseinsicht und Transzendentalphilosophie. Thomas von Aquin zwischen Rahner und Kant. Questiones Non Disputatae V. Siegburg 2001.
11 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1963 § 6.
12 A.a.O. S. 311.
13 Berning S. 415; vgl. Bernhard Lakebrink: Die Wahrheit in Bedrängnis. Stein am Rhein 1986 S. 7.
14 Rahner: Geist in Welt. Innsbruck 1939, XI f.
15 Selbst der wohlwollende, weil selbst von Heidegger inspirierte Max Müller weist daraufhin, „dass nur Rahners Arbeit eine radikal existenzial-anthropologische Ausdeutung der thomasischen Erkenntnislehre vornimmt, während das für Lotz, Siewerth und Müller nicht gelte, weil diese sich trotz ihrer jeweiligen Neuansätze stärker den großen spekulativen abendländischen Metaphysik-Tradition, in welche Thomas hineingehöre, zu orientieren suchen“. Nach Berning S. 493. Vgl. dazu M. Müller, in: P. Imhoff/H. Bialowons (Hrsg.): Karl Rahner. Bilder seines Lebens. Zürich/Köln 1985 S. 28 f.
16 Geist in Welt, a.a.O. S. 17.
17 Berning S. 435.
18 Vgl. unser Werk: Offenheit und Distanz (Berlin 1993), das diese Lehre vom Intellekt, der zu Beginn der Erkenntnis wie ein leeres, unbeschriebenes Blatt ist, konsequent weiterführt und in ihrer anthropologischen Bedeutung zu analysieren sucht.
19 Rahner a.a.O. S. 35.
20 A.a.O. S. 39.
21 Berning S. 437.
22 Berning charakterisiert diesen Ursprung treffend: „Der menschliche Geist bedarf der sinnenhaften Materie, um aktiv die Sinnlichkeit als Vermögen aus sich zu entlassen, indem er die Materie als solche erst bestimmend realisiert“. A.a.O. S. 453.
23 Rahner a.a.O. S. 278.
24 Berning S. 443.
25 In: Scholastik XV (1940) S. 408.
26 Urs v. Balthasar: Rezension von Rahners „Geist in Welt“ in: Ztschr. f. Kath. Theologie Innsbruck 1939, S. 375.
27 Stuttgart 1969.
28 Vgl. Joseph Maréchal: Le point de départ de la métaphysique. Cahier 5: Le Thomisme devant la Philosophie critique. 2. Aufl. Brüssel-Paris 1949; vgl. dazu Engelbert Wingendorf: Das Dynamische in der menschlichen Erkenntnis. Maréchal, ein neuer Lösungsversuch des erkenntnistheoretischen Grundproblems. Bonn Bd. 1 1939, Bd. 2 1940.
29 Vgl. Rahner: Geist in Welt a.a.O. S. 203; Hörer des Wortes, München 1941 S. 109, 118, 182 und Berning S. 444.
30 Vgl. dazu Giuseppe Card. Siri:Gethsemani. Überlegungen zur theologischen Bewegung unserer Zeit. Aschaffenburg 1982; Berhard Lakebrink: Die Wahrheit in Bedrängnis. Stein am Rhein 1986; David Berger: Natur und Gnade in systematischer Theologie und Religionspädagogik von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Regensburg 1998.