ULRICH FILLER
Zum 40. Jahrestag der feierlichen Proklamation der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils
„Sacrosanctum Concilium“ am 4. Dezember 1963
Unmittelbar bevor am 4. Dezember 1963, dem Schlusstag der zweiten Sitzungsperiode des II. Vatikanischen Konzils, die – von den Konzilsvätern mit begeistertem Beifall begrüßte - endgültige und förmliche Abstimmung über das Schema über die Liturgie stattfand, fasste Papst Paul VI. das Anliegen des Konzils in diesem Punkt noch einmal zusammen. Das erste Schema, das das Konzil diskutierte, sei das der heiligen Liturgie und der Gegenstand sei auch „in gewissem Sinn der erste nach seiner inneren Vorzüglichkeit und seiner Bedeutung für das Leben der Kirche.“ Es gehe dem Konzil darum – so der Papst – den liturgischen Ritus zu vereinfachen und dem Volk verständlicher zu machen und auch die liturgische Sprache der von dem jeweiligen Volk gesprochenen anzupassen. Es gehe aber nicht darum, die Liturgie ärmer zu machen – „im Gegenteil, wir wünschen uns die Liturgie reiner, treuer, mehr in Übereinstimmung mit der Quelle der Wahrheit und Gnade und geeigneter, in ein spirituelles Erbe des Volkes verwandelt zu werden.“ [1]
40 Jahre nach der feierlichen Proklamation von „Sacrosanctum Concilium“ mag dieser Wunsch des Papstes und des Konzils als kritischer Maßstab gelten. Wurden die Erwartungen, die die Liturgie-konstitution begleiteten, erfüllt? Ist die Liturgie heute „reicher“ geworden, statt ärmer? Wird sie in unseren Pfarrgemeinden heute „reiner und treuer“ gefeiert, als es vor dem Konzil der Fall war? Ist die heilige Liturgie ein wirkliches „spirituelles Erbe des Volkes“ geworden?
Im Grunde genommen handelt es sich um rhetorische Fragen. Nicht nur deshalb, weil das traurige, oft verheerende Bild der Liturgie in unseren Pfarrgemeinden – das bekannt und viel beklagt ist und hier nicht noch einmal detailliert beschrieben werden muss – eher auf das Gegenteil der Konzilshoffnungen hinweist, sondern vor allem deshalb, weil man sich unwillkürlich sträubt, die heutige Form der Liturgie mit ihrer vorkonziliaren Form zu vergleichen. Zu unterschiedlich wirken beide auf den Betrachter, zu sehr hat man das Gefühl, jeweils mit etwas ganz anderem konfrontiert zu sein, sozusagen „Äpfel mit Birnen“ vergleichen zu müssen. Wenn wir heute von der „alten“ und der „neuen“ Messe sprechen, dann sind schon im Grundansatz zwei ganz verschiedene Formen der Feier gemeint.
Ganz offensichtlich hat es seit dem Konzil in dem weltweiten katholischen Ritus einen deutlichen Bruch gegeben. Und dieser wird landläufig durch verschiedene Gegebenheiten illustriert:
An die Stelle einer „klerikerzentrierten“ Liturgie, an der das Volk keinen Anteil hatte (sondern meist rosenkranzbetend in der Bank saß) trat eine Feier der ganzen Gemeinde, die neu als Subjekt und Träger des Gottesdienstes begriffen wird; die überholte und unverständliche Kultsprache wich dem Gebrauch der Landessprache; der Zelebrant (den man jetzt lieber „Vorsteher“ nennt) wendet dem Volk nicht mehr den Rücken zu, sondern steht am Ambo und Volksaltar den Gläubigen gegenüber; der in der vorkonziliaren Liturgie verlorene „Mahlcharakter“ der Messfeier wurde – u.a. durch die Einführung der Handkommunion – wieder betont; ganz allgemein trat an die Stelle eines steifen, jede Geste des Priesters festlegenden Zeremoniells eine Feier mit zahlreichen freien Gestaltungsmöglichkeiten usw… Für den Nachgeborenen, der die „alte“ Messe nicht mehr aus eigener Anschauung erlebt hat, wurde und wird der Eindruck vermittelt, mit der Liturgiereform wurde eine Art gespenstischer, mittelalterlicher Mummenschanz endlich über Bord geworfen.
Wenn man aber in dem Dokument, das diese Veränderung ausgelöst haben soll, den Grund dafür sucht, sucht man vergeblich. Man findet nämlich keinen Hinweis auf eine solche totale Veränderung, wie sie in der Liturgie offensichtlich eingetreten ist. „Sacrosanctum Concilium“ spricht davon, dass die Reformvorhaben „sorgfältig“ (SC 21) durchzuführen sind, ja das nicht eine Neuschöpfung, sondern ein „organisches“ Wachstum der Liturgie das Ziel sei (SC 23), dass die Riten nur „unter treulicher Wahrung ihrer Substanz“ (SC 50) verändert werden sollten und das keine Neuerungen eingeführt werden sollen, „es sei denn, ein wirklicher und sicher zu erhoffender Nutzen der Kirche verlange es“ (SC 23).
Es geht der Liturgiekonstitution dabei nicht um eine eigentliche Liturgiereform, sondern eher um allgemeine Grundsätze dafür. Darin werden u.a. Wünsche für die Haltung der Mitfeiernden (die Forderung nach der vielzitierten und oft falsch verstandenen „tätigen Teilnahme“ durchzieht SC wie ein Kehrreim) oder für eine angemessene Inkulturation der Liturgie ausgesprochen. Daneben gibt der Text auch einige konkrete Anordnungen für die Reform der Messliturgie. Es heißt dort u.a. Die Riten sollen überarbeitet, vereinfacht und am Maßstab der altkirchlichen Überlieferung ergänzt werden (SC 50), die biblische Leseordnung soll erweitert werden (SC 35/51), auf die Predigt soll größerer Wert gelegt werden (SC 35/52). Betont wird die Einheit der Messfeier und die Verbindung von Messe und Kommunionempfang (SC 55). Unter bestimmten Umständen will man die Kommunion unter beiderlei Gestalten sowie die Konzelebration der Priester ermöglichen (SC 55/57-58).
Weitere Anordnungen betreffen Anordnungen zum Katechumenat und den Sakramenten (SC 59-78) und zur Feier des Stundengebets (SC 83-101). Ebenfalls eigene Kapitel erhielten Verfügungen zum liturgischen Jahr und Kalender (SC 102-111), zur Kirchenmusik (SC 112-121) und zur sakralen Kunst (SC 122-130).
Die augenfälligste Veränderung gegenüber dem früheren Ritus besteht in der Erlaubnis, der Muttersprache „vor allem in den Lesungen, Hinweisen und einigen Orationen und Gesängen“ einen „weiteren Raum“ zu geben. Aber dieser Bestimmung ist der klare Hinweis vorgeschaltet, dass der Gebrauch der lateinischen Sprache in den lateinischen Riten erhalten bleiben soll (SC 36).
Allein diese vorsichtigen Einschränkungen bezeugen, dass die Konzilsväter nicht an eine totale Veränderung der Liturgie dachten – immerhin hat der streitbare Erzbischof Marcel Lefebvre, der einige Jahre später sogar ein Schisma riskierte, um Priester für die „alte“ Messe weihen zu können, dem Dokument seine Unterschrift nicht versagt. Die einfachste Erklärung dafür ist nicht in einem abrupten Sinneswandel des Erzbischofs zu suchen, sondern in der Tatsache, dass die Konzilsväter mit „Sacrosanctum Concilium“ etwas ganz anderes im Sinn hatten, als später dabei herausgekommen ist.
Ebenso wenig dachte man an eine veränderte Liturgie auf dem Hintergrund eines veränderten Kirchen-bildes – die Kirchenkonstitution wurde erst ein Jahr nach dem Text über die Liturgie verabschiedet. Es ging dem Konzil eher um eine pastoraldidaktische Reform, die den Gläubigen einen verbesserten Zugang zum heiligen Geschehen ermöglicht, die die Liturgie eben zu einem „spirituellen Erbe des Volkes“ werden lässt, verbunden mit einer inhaltlichen Korrektur an einzelnen Punkten der historischen Entwicklung. Die wenigen Gegenstimmen zum Liturgiedokument sprechen dafür, dass die Konzilsväter in dem Text kein großes Konfliktpotential erblickten.
Es bleibt eine Tatsache, dass diejenigen konkreten Veränderungen, die später zu Recht als besonders gravierende Unterschiede den Bruch (oder „Aufbruch“) zwischen „alter“ und „neuer“ Messe kenntlich machen – Zelebration am Volksaltar, weitgehendes Verschwinden der lateinischen Kultsprache, freie Gestaltungsmöglichkeiten. Erlaubnis der Handkommunion – in dieser Form nicht Anordnungen des Konzils selbst sind, sondern meist auf spätere Umsetzungsdokumente bzw. revidierte liturgische Bücher zurückgehen.
Der Erklärung für den Bruch in der liturgischen Form der katholischen Kirche seit dem II. Vatikanum ist also mit dem Verweis auf „Sacrosanctum Concilium“ nicht Genüge getan. Sie wird einleuchtender, wenn man die „Vorgeschichte“ und die „Wirkungsgeschichte“ dieses Dokuments in den Blick nimmt:
Es gibt wohl kaum ein Dokument des II. Vatikanums, das eine derart beeindruckende und weitreichende Vorgeschichte hat wie „Sacrosanctum Concilium“. Es ist die mindestens 60jährige Geschichte der liturgischen Bewegung. In der Einleitung zur Liturgiekonstitution des „Kleinen Konzilskompendiums“ wird der Bogen der Vorgeschichte vom Katholikentag von Mecheln 1909 über Mediator Dei (1947) und den Schriften Romano Guardinis bis zum Konzil gespannt.[2] Das Schema über die Liturgie, das unter dem bedeutenden Einfluss deutscher und holländischer Kommissionsmitglieder vorbereitet wurde (die die Ideen und Anregungen der Liturgischen Bewegung einbringen konnten), war deshalb auch das einzige der ersten Schemata, das ohne große Proteste und Veränderungen von den Konzilsvätern beraten und beschlossen wurde. Man darf nicht übersehen, dass die Vorgeschichte eben auch die Geschichte einer breiten Erwartungshaltung, einer Sehnsucht nach Veränderung und Verbesserung im Bereich der Liturgie, eines gärenden und experimentierfreudigen Aufbruchs[3] ist, der in drängender Form und Anfrage an das Konzil herangetragen wurde. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass zumindest hierzulande Gläubige, Priester und Bischöfe den „alten“ Ritus einfach leid waren und Veränderungen wünschten. Dabei handelte es sich durchaus – konform mit dem Wunsch Pauls VI. – um den Wunsch nach Verlebendigung, Vertiefung und innigerer Teilnahme der Gläubigen (man blättere nur einmal in den heute noch lesenswerten Schriften von Guardini zur Messfeier[4]).
Eine Reform der Liturgie lag sozusagen in der Luft – und der Versuch des Konzils, mit „Sacrosanctum Concilium“ auf diese Zeitströmung zu reagieren und die „in der Luft liegenden“ Anliegen[5] behutsam aufzugreifen, verdient Bewunderung.
Mehr aber noch als ihre Vorgeschichte sind heute die gewaltigen Folgen der Liturgiekonstitution von Bedeutung. Kein anderes Dokument des Konzils kann sich einer ähnlichen erschütternden Wirkungsgeschichte rühmen, keines hat einen solchen Streit, eine solche Zerrissenheit, solche – bis ins Schisma führenden – innerkirchlichen und bis heute aktuellen Auseinandersetzungen hervorgerufen, keines hat die äußere Form, die Physiognomie der Kirche stärker verändert.
Dennoch wirkt die Liturgiekonstitution heute blass, gestrig, eigentlich unwichtig für die Gestaltung der Liturgie. „Sacrosanctum Concilium“ gab ein sehnsüchtig erwartetes Startsignal, das eine lawinenartige Entwicklung auslöste, die das Dokument ziemlich schnell unter sich begrub. Das, was die Konzilsväter als Maßstab einer vorsichtigen Reform vorgegeben haben, blieb im Überschwang der nachkonziliaren Euphorie unbeachtet.
Die Erschütterungen begannen bereits unmittelbar nach der feierlichen Proklamation. Als Papst Paul VI. eine „vacatio legis“, einen Aufschub der Umsetzung von „Sacrosanctum Concilium“ zum 16. Februar 1964 verkündete um einen Modus der Umsetzung zu finden, Zeit zu haben, die Bischöfe, Priester und Laien von den kommenden Veränderungen zu unterrichten und neue liturgische Bücher zu erstellen, brach im Staatssekretariat „die Hölle los“.[6] Wie ein Krimi liest sich dieser Teil der Konzilsgeschichte – Dokumente, die in verschiedenen, voneinander abweichenden Übersetzungen kursieren, veröffentlicht und zurückgezogen werden, zornige französische Bischöfe, die die Volkssprache ohne Verzögerung erlauben wollen, ein alter Kardinal, den man zu einer noch nötigen Unterschrift mobbte, bis er in Tränen ausbrach[7] - man reibt sich verwundert die Augen. Hier wurde nicht ein Dokument des Konzils in aller nötigen Ruhe und Sorgfalt umgesetzt, hier hat man eher den Eindruck eines wahnsinnigen Kesseltreibens, eines Kampfes und Tauziehens zwischen „fortschrittlichen“ Bischöfen und römischer Kurie.
Auch die Umsetzung der Liturgiekonstitution in den Pfarreien entbehrt nicht eines gewissen irrationalen Aspekts. Eine „Kulturrevolution“[8] hat man sie zu Recht genannt. Im bilderstürmerischen Wirken zahlloser Priester und Kirchenausstatter offenbart sich eine regelrechte Autoaggression, ein geradezu masochistischer Hass gegen sich selbst und die eigene Herkunft. Mancher der Akteure dieser Epoche und ihrer Epigonen verabscheut bis heute nichts mehr als die Kirche der Vergangenheit, in der er selbst einmal seinen Glauben und seine Berufung gefunden hat. Man zerstörte ihre Symbole und ihren Kult, weil man in ihnen ein Stück der eigenen „alten“ Identität erkennt, die man endlich abgeschüttelt zu haben glaubte. Doch die Scherben sprechen ihre eigene Sprache. Im Zerbrechen der Hochaltäre symbolisiert sich das Zerbrechen vieler geistlicher Lebensentwürfe. Der versprochene „Aufbruch“, das Erstehen einer „jungen“, „lebendigen Kirche“ auf dem Trümmerfeld der Tradition ist Illusion geblieben und wird es auch weiterhin bleiben.
Ein Blick auf diese Wirkungsgeschichte macht deutlich: Hier geht es um mehr als um die Frage, wie die Gläubigen das unblutig vollzogene Opfer Jesu Christi auf dem Altar in „tätiger Teilnahme“ besser und inniger mitfeiern können. Hier wurde die Reform und totale Veränderung der Liturgie zu einem Vehikel eines neuen Kirchenbildes und anderer Ideologien.
Es ist das Schicksal der Liturgiekonstitution, dass ihre Umsetzung nach ihren eigenen Maßstäben und dem Willen der Konzilsväter nicht nur anders – moderater, organischer, traditionsverbundener – hätte ausfallen müssen, sondern dass diese Umsetzung mit einer den ganzen Glauben treffenden und die ganze Kirche erschütternden Verschiebung einhergegangen ist. Wem dieses Urteil zu hart erscheint, besuche nur einen beliebigen Pfarrgottesdienst und versuche, nach dem alten Gesetz „lex orandi, lex credendi“ den Glauben derer, die für die Gestaltung der Liturgie verantwortlich sind, aus ebendieser Gestaltung herzuleiten.[9]
Ein Ausdruck dieser „Verschiebung“ ist auch die immer weitergehende Reform der Liturgie. In manchen Sakristeischränken kann man noch das dreibändige lateinisch-deutsche Missale von 1965 finden, in dem sich die erste auf „Sacrosanctum Concilium“ zurückgehende, reformierte Gestalt des Messritus findet, die sich v.a. durch eine Verkürzung des Stufengebets und den Wegfall des Schlussevangeliums auszeichnet. Warum eigentlich ist dieser „Zwischenritus“ nicht heimisch geworden? Weil es seitdem eine immer weitergehende und – nach dem Willen mancher Liturgiewissenschaftler – nie enden könnende Dauerreform der Liturgie gibt, deren Legitimation ausschließlich mit der Berufung auf den berüchtigten „Geist des Konzils“ ziemlich dünn ist. Die neuesten Ergebnisse dieses Prozesses ist die Schaffung ellipsenförmiger Gottesdiensträume, in deren Brennpunkten Altar („Tisch des Brotes“) und Ambo („Tisch des Wortes“) ihren Platz haben. Die Gläubigen sitzen (auch die Kniebänke sind weggefallen) wie im Zirkus im Kreis darum herum.
Die Auseinandersetzungen und Diskussionen über diese immer weitergehende Liturgiereform aber dauern an. Immerhin ruft uns der Papst selbst im Apostolischen Schreiben zum Jubeljahr 2000 zur „Gewissensprüfung“ auf, inwieweit auch in Fragen der Liturgie das Anliegen des Konzils tatsächlich verwirklicht worden ist.[10] Dass profilierte Konzilsbeobachter, die seinerzeit nicht gerade zur kurialistischen Partei gehörten, in der Rückschau ernste Zweifel an einer allseits gelungenen Umsetzung angemeldet haben, sei nur im Blick auf Prof. Hubert Jedin[11] oder Joseph Kardinal Ratzinger[12] vermerkt. Gegen all jene aber, die meinen, jede Form moderner liturgischer Praxis oder eigenen vorauseilenden Gehorsams im Blick auf „das Konzil“ rechtfertigen zu können, ist festzuhalten: Nichts in den Konzilsaussagen spricht dafür, dass – bei allen sicherlich gewollten neuen Akzentuierungen – das Wesen der katholischen Liturgie, wie es etwa in früheren lehramtlichen Texten umrissen wurde, umdefiniert werden sollte. Die Bestimmungen des II. Vatikanums sind darum wie alle Konzilstexte früherer Jahrhunderte in den Kontext der größeren kirchlichen Tradition einzuordnen und aus diesem heraus zu interpretieren. Die Konzilsväter selbst wollten ja aus der Vergangenheit einen Maßstab für die Liturgie von heute gewinnen.
Mit Recht hat Robert Spaemann deshalb bemerkt, es gebe nichts Dümmeres als die oft gehörte Parole, niemand dürfe „hinter das Konzil zurück“: Entweder ist dieser Satz eine Banalität – im Sinne von: Man kann nicht die Zeit zurückdrehen. Oder er ist falsch, wenn man meint, erst im II. Vatikanum und nur hier werde die Offenbarung Gottes endgültig begriffen.[13] Denn eine solche Sicht ist durch die Texte des Konzils nicht gedeckt. Gegen diese Texte und ihren Wortlaut aber ist die Berufung auf den ominösen „Geist des Konzils“ unzulässig.
Schreiten wir zu einer kleinen Bestandsaufnahme:
Da ist zunächst die Situation des klassischen römischen Messritus. Es ist in der Wirkungsgeschichte von „Sacrosanctum Concilium“ nicht gelungen, die klassische Liturgie vollständig zu eliminieren. Die in der Folge des unseligen Schismas um Erzbischof Lefebvre entstandenen Priestergemeinschaften mit dem Proprium der Pflege des klassischen Ritus, die Laiengruppierungen, die sich für die Ermöglichung dieses Ritus einsetzen und solche oft erkämpfen mussten und nicht zuletzt die Legitimation und Förderung des klassischen Ritus durch das kirchliche Lehramt sprechen eine deutliche Sprache. Mittlerweile scheint auf diesem Feld eine gewisse Entspannung erkennbar zu sein – die Möglichkeit einer Reintegration der Priesterbruderschaft Pius X. wird offen diskutiert und für wahrscheinlich gehalten. Wer immer noch glaubt, es handle sich dabei nur um Zugeständnisse für besonders alte und uneinsichtige Gläubige, der irrt. In der verheerenden Situation unserer Tage stellt der klassische Ritus eine wirkliche, katholische Alternative dar – auch und gerade für diejenigen, die sich enttäuscht von dem hemdsärmligen, selbstgemachten, kinderbelustigendem Kitsch abwenden, der in vielen Gemeinden als Liturgie verkauft wird. Man wird die Prognose wagen dürfen, dass diese Entwicklung weiter voranschreitet. Auch wenn die Existenz von zwei lateinischen Riten aus verschiedenen Gründen nicht wünschenswert ist, bleibt letztlich keine andere sinnvolle Lösung, als die Anerkennung der faktischen Gegebenheiten. Und wie heißt es so schön? Das chinesische Schriftzeichen für Krise bedeutet gleichzeitig auch Chance. Vielleicht liegt in der blühenden Existenz des klassischen Ritus auch eine Chance für die Erneuerung und Verlebendigung der „neuen Messe“.
Ein zweiter Punkt der Bestandsaufnahme gilt der Frage nach dem „Volksaltar“. Neben der Erlaubnis der Muttersprache gilt der Wechsel der Zelebrationsrichtung als das Merkmal der Liturgiereform. Im Unterschied zur ersteren findet diese Neuerung jedoch keinen Auftrag in der Liturgiekonstitution. Auch hier hat Ratzinger schon vor längerer Zeit die bestehende Praxis kritisch hinterfragt[14] und auf die kosmologische Dimension der Zelebrationsrichtung versus deum hingewiesen, die ihrem Sinn nach die Gleichwerdung von Priester und Volk zum gemeinsamen Akt der trinitarischen Anbetung bedeutet.
Unbedingt bedenkenswert ist der Vorschlag Ratzingers, zumindest ein großes Kreuz so auf dem Altar aufzustellen, dass Priester und Gläubige es gemeinsam anschauen: „Im Hochgebet sollen sie nicht sich anblicken, sondern gemeinsam auf Ihn – hinschauen auf den Durchbohrten (Sach 12,10; Apok 1,7).“ Für Ratzinger ist ein solches Kreuz nicht ein Hindernis, sondern im Gegenteil eine Vorraussetzung für die Zelebration versus populum.[15]
Ein letzter Punkt der Bestandsaufnahme betrifft diejenigen Auswirkungen der Liturgiereform, die eine klare Verletzung der Forderungen von „Sacrosanctum Concilium“ bedeuten und die – frei nach dem Motto: Zurück zum Konzil! – einer sofortigen Revision bedürfen. Drei Beispiele:
·„Deshalb darf durchaus niemand sonst, auch wenn er Priester wäre, nach eigenem Gutdünken in der Liturgie etwas hinzufügen, wegnehmen oder ändern.“ (SC 22, §3) Das Bild vieler unserer Pfarrgottesdienste ist in der Regel leider auch ein Bild eines unerträglichen liturgischen Wildwuchses, der eine ständige, eklatante Verletzung dieser Forderung der Liturgiekonstitution bedeutet.
·„Der Gebrauch der lateinischen Sprache soll in den lateinischen Riten erhalten bleiben, soweit nicht Sonderrecht entgegensteht.“ (SC 36, §1)[16] Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass heute faktisch das Gegenteil eingetreten und die lateinische Kultsprache völlig verschwunden ist. Selbst falls hier und da noch lateinische Hochämter eine kümmerliche Existenz fristen, werden sie von der überwiegenden Mehrzahl der Gläubigen als exotische, vorkonziliare, im Grunde fremde Elemente wahrgenommen.
·„Die Kirche betrachtet den Gregorianischen Choral als den der römischen Liturgie eigenen Gesang; demgemäß soll er in ihren liturgischen Handlungen, wenn im übrigen die gleichen Voraussetzungen gegeben sind, den ersten Platz einnehmen.“ (SC 116) Auch hier dasselbe, trostlose Bild. Der vor vierzig Jahren noch in der kleinsten Dorfgemeinde geübte, lebendige Choral ist heute – nach den Gotteslobliedern (Platz 1), „neuem geistlichen Liedgut“ (Platz 2), „Kindermutmachliedern“ (Platz 3), den sich (immerhin!) durch meist fromme Texte auszeichnenden Liedern charismatischer Gemeinschaften (Platz 4) und „Gospels“ (Platz 5) – allerhöchstens auf einem weit abgeschlagenen Platz 6 in der Skala anzusiedeln.
Neben solchen klaren Verletzungen der Forderungen von „Sacrosanctum Concilium“ hat Joseph Kardinal Ratzinger bereits vor über 20 Jahren in verschiedenen Predigten und Aufsätzen[17]auf wichtige Kritikpunkte hingewiesen: Die verengende Ideologisierung der „Gemeinde“, deren Eucharistiefeier Selbstbestätigung und Selbstabschließung bedeutet, muss wieder auf die Gesamtkirche hin geöffnet werden; die participatio actuosa aus dem Liturgie selbst produzierenden Aktivismus herausgeführt und die Frage nach der „Unterscheidung des Herrenleibes“ im Zuge einer Kommunionpraxis, die den regelmäßigen Kommuniongang als Ausdruck der Zugehörigkeit zur Gottesdienstgemeinde empfindet, von neuem gestellt werden.
Man könnte viele weitere Beispiele anfügen – entscheidend bleibt die Frage: Warum ändert sich nichts? In seinem jüngsten Interview mit der Tagespost[18] hat Kardinal Ratzinger auf einen entscheidenden Punkt verwiesen[19]: Viele Bischöfe fragen zunächst nach der Verhältnismäßigkeit: „Ist dieser Missbrauch, das Fehlverhalten, die Irrlehre so gewichtig, dass ich das öffentliche Geschrei auf mich nehmen muss sowie auch die ganzen Verunsicherungen, die dabei auftreten, oder muss ich versuchen, den Fall möglichst in Frieden zu lösen oder auch das an sich Unannehmbare zu tolerieren, um größere Verwundungen zu vermeiden?“ Ganz abgesehen von der Tatsache, dass Priester, die in den Pfarrgemeinden versuchen, die (liturgischen) Regeln und Normen der Kirche zu leben, dieses „öffentliche Geschrei“ und andere Unannehmlichkeiten sehr wohl ertragen müssen, ist doch wirklich die Frage, ob Ratzinger nicht recht hat, wenn er etwas später sagt: „Aber dabei haben wir unterschätzt, dass alles, was man an Vergiftungen toleriert, Gift hinterlässt, das weiterwirkt und am Ende eine wirkliche Gefährdung der Glaubwürdigkeit der Kirche mit sich bringt, weil die Meinung entsteht: Man kann dies und jenes sagen, das alles hat in der Kirche Platz.“
In diesem Sinne ist es nur zu wünschen, dass 40 Jahre nach der feierlichen Proklamation der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils alsbald eine „liturgische Entgiftung“ auf der Grundlage von „Sacrosanctum Concilium“ durchgeführt wird - mögen auch die Entzugserscheinungen schmerzhaft sein.
Adresse des Autors: Kpl. Ulrich Filler, Hauptstr. 68, D-51503 Rösrath
Vom Autor des Beitrags (Jg. 1971), Priester des Erzbistums Köln, ist vor kurzem erschienen :
Ulrich Filler: Liturgie. Das Herz der Kirche, fe-medienverlag: Kisslegg 2002, 222 Seiten, geb., ISBN 3-928929-42-9.
Ein Buch, das auf tiefschürfende und doch allgemeinverständliche Weise einen Zugang zur Liturgie der Kirche ebnen möchte. Nach der Frage, was Liturgie eigentlich sei, wird das Wesen der heiligen Messe dargestellt. Dann folgt eine Erklärung von Aufbau und Ablauf der heiligen Messe, es werden konkrete Einzelfragen beantwortet und die Bedeutung der liturgischen Gefäße und Symbole erschlossen. Den Schlussteil bildet eine Einführung in den Römischen Kanon (db).
[1] Cf. Ralph M. Wiltgen, Der Rhein fließt in den Tiber – Eine Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (Feldkirch 21988), 143.
[2] Cf. Karl Rahner, Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium (Freiburg 231991), 37.
[3] Bereits um 1950 wurde – v.a. in der Jugendbewegung – vereinzelt mit dem Volksaltar und der Zelebration versus populum experimentiert. Vgl. Augustinus Reinecke, Jugend zwischen Kreuz und Hakenkreuz (Paderborn 21987), Foto S. 224ff.
[4] z.B. Romano Guardini, Besinnung vor der Feier der heiligen Messe (Mainz 41947, weitere Auflagen).
[5] Eine Ausnahme bilden der Volksaltar und die Zelebration versus populum. Dieses Anliegen der liturgischen Bewegung blieb merkwürdig unbeachtet. Die Diskussion über die Liturgie wurde v.a. von den Themen der liturgischen Sprache, Mission und Inkulturation sowie Form und Gestalt des Breviers beherrscht. Cf. Wiltgen, 25ff., 35ff., 141ff.
[6] Ibd. 144.
[7] Den ganzen Krimi gibt es ausführlich bei Wiltgen, 143ff.
[8] Cf. Helmut Kuhn, Die Kirche im Zeitalter der Kulturrevolution (Graz-Wien-Köln 1985).
[9] Eines von unzähligen Beispielen ist die erschütternde Klage bezüglich der oft unwürdigen Aufbewahrung des Allerheiligsten nach der „Zwetschgen-Ernte-Methode“ im Leserbrief von P. Prosper Wagner OFMCap (Tagespost Nr. 122 vom 14.10.2003).
[10] Cf. Johannes Paul II., Tertio Millennio Adveniente, n.36: „Wird die Liturgie, gemäß der Lehre von Sacrosanctum Concilium, als ‚Quelle und Höhepunkt‘ des christlichen Lebens gelebt?“
[11] Cf. Hubert Jedin, Lebensbericht (Mainz 21985), 220f.
[12] Cf. Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben. Erinnerungen (Stuttgart 1998), 172ff.
[13] Cf. Robert Spaemann, Was heißt Fortschritt?, in: PMT-Rundbrief (März 1991).
[14] Cf. Josef Kardinal Ratzinger, Anmerkung zur Frage der Zelebrationsrichtung, in: Das Fest des Glaubens (Einsiedeln 31993), 121ff. Im gleichen Sinne sind auch die Ausführungen in: Der Geist der Liturgie – Eine Einführung (Freiburg 2000) zu werten, z.B. 65ff. Die Frage nach dem Sinn des Volksaltares wird auch in anderen jüngsten Veröffentlichungen wieder diskutiert, z.B. Uwe Michael Lang, Conversi ad Dominum. Zur Geschichte und Theologie der christlichen Gebetsrichtung (Einsiedeln 2003).
[15] Cf. Ratzinger, Anmerkung zur Frage der Zelebrationsrichtung 125. Sowie: Der Geist der Liturgie, 73.
[16] Dem korrespondiert SC 101 § 1: „Gemäß jahrhundertealter Überlieferung des lateinischen Ritus sollen die Kleriker beim Stundengebet die lateinische Sprache beibehalten.“ Auch hier ist die Regel längst zur verschwindenden Ausnahme geworden.
[17] z.B.: ‚Das gottesdienstliche Leben in den Gemeinden 15 Jahre nach dem Konzil’, in: Das Fest des Glaubens (Einsiedeln 31993), 127ff.
[18] Nr. 118 vom 04. Oktober 2003.
[19] Auf die Frage, warum manche Bischöfe „Missbräuchen, disziplinarischem Fehlverhalten oder der Verbreitung von gefährlichen theologischen Lehren zu lange untätig zuschauen“.