Brunero Gherardini

„Aber die Stunde kommt und sie ist schon da“ (Joh 4,23)[1]

Ja, die Stunde ist gekommen. Die Stunde der offenen Rede, die im Evangelium parresia[2]genannt wird und die sich der Feder eines bekannten anglikanischen Erzbischofs bemächtigte, als er sein berühmtes Werk mit – Honest to God – betitelte: Nennen wir die Dinge in aller Offenheit bei ihrem Namen, auch wenn dies jemandem missfallen wird. Denn weiteres Schweigen könnte als Einverständnis gedeutet werden.

Es gibt vieles klarzustellen, zu vieles für eine präzise Klärung von wenigen Seiten. Ich beschränke mich deshalb auf die fehlende Anerkennung der christlichen Wurzeln Europas, um hieraus einige Rückschlüsse zu ziehen: Dazu hatte bis heute niemand die parresia.

1 – Wer gewöhnlich den Tag Gott im Gebet weiht und sich an die monatlichen, vom Gebetsapostolat bekannt gegebenen Gebetsmeinungen hält, kann die erste der drei Anweisungen vom letzten August unmöglich ohne genaue Beachtung befolgt haben. Das ergab sich aus der Tatsache, dass die ersten beiden Gebetsmeinungen üblicherweise vom Heiligen Vater stammen, die erste aber noch zusätzlich einen besonderen Inhalt aufwies und nicht zuletzt auf neuere und ältere Initiativen anspielte.

Diese Gebetsmeinung lautete folgendermaßen: (Wir beten) „dass die Europäische Union aus ihrem christlichen Erbe, dem wesentlichen Bestandteil ihrer Kultur und Geschichte, neue Kraft schöpfen kann („sappia attingere“).[3]Diese Hilfsfunktion von können („sappia“) zum Verb schöpfen („attingere“) war vollkommen pleonastisch und wurde zugunsten der einfacheren Formulierung von schöpft („attinga“) aufgehoben. Es war in der Tat eine Frage des Willens und der Kohärenz, haben doch die Gipfeltreffen der Europäischen Union ihrerseits einen festen und unbeugsamen Willen zur Inkohärenz gezeigt, sodass das direkte und klare schöpft („attinga“) tatsächlich angemessener ist. 

Ich mache daraus keine Grundsatzfrage, denn etwas anderes drängt mich zu einer ehrlichen und klaren Stellungnahme.

Es ist gewiss niemandem entgangen, wie sehr sich der Heilige Stuhl und der Heilige Vater auch noch persönlich dafür einsetzten, dass nicht schon in der Präambel der konstitutionellen Charta der Europäischen Union die christlichen Wurzeln, ihre historische und kulturelle Identität, ignoriert werden. Es wurden alle diplomatischen Wege eingeschlagen, selbst unübliche Amtswege. Eine breite Überzeugungsarbeit unterstützte den diplomatischen Einsatz: Historiker, Theologen, Kulturschaffende und Politiker trugen in ihren jeweiligen Gebieten mit Analysen und unbestreitbaren wissenschaftlichen Errungenschaften zur Erhellung der Argumente bei, auf denen die wohlbegründete Hoffnung auf Anerkennung der christlichen Wurzeln ruhte, die man jedoch zu verleugnen gewillt war.

Die Auseinandersetzungen waren aufreibend. Einige wenige politische Beobachter enthüllten, dass die zwar löbliche Periode der italienischen Präsidentschaft schließlich ins nichts abgleitete. Zweifellos hing das auch wegen der Unmöglichkeit zusammen, mit der Gegnerschaft über jene (nicht nur) von vatikanischer Seite erhobenen Forderungen nach einem Gottesbezug verhandeln zu können, der in verschiedenen Wesenszügen der europäischen Wirklichkeit mehr oder weniger getreu anklingt. Wie man weiß, setzte sich eine geschlossene, verblendete und unnachgiebige Opposition durch, die sich auf einen falsch verstandenen und vor allem falsch angewandten Begriff von Laizität stützte und sich auch willig der Führerschaft Frankreichs anschloss, der „ältesten Tochter der Kirche".

2 – Der genannten Führerschaft – die deutsche war indirekter, nicht so spontan – haftet eine gewisse Komik an, würde es hier nicht um eine tragische Abstumpfung des christlichen Gewissens gehen. Gegeben ist die tragikomische Rolle der Führerschaft durch ihre sture Unnachgiebigkeit, die rein ideologisch und keinesfalls historisch begründet und daher unhaltbar und ohne jede Plausibilität ist. Dementsprechend steht sie auch auf Kriegsfuß mit den Folgen der großen und kleinen Geschichte Frankreichs. Ich denke an jene Geschichte, die Frankreich den Ehrentitel „älteste Tochter der Kirche“ eintrug, was auch gerechtfertigt war und zwar einfach deshalb, weil es, den Argumenten von Glaube und Kirche entgegenkommend, jene enge gegenseitige und grundlegende Beziehung zwischen der eigenen – bürgerlichen, künstlerischen, kulturellen und politischen – Wirklichkeit und der christlichen Religion errichtete. Es ist die Geschichte von Städten und Schlössern, von wundervollen, großartigen Kathedralen und kleinen Kapellen am Rande der Straßen und Wege. Es ist die Geschichte von berühmten Heiligen und Wundertätern, von Universitäten, von Klöstern und Theologen, die sich um das Erstgeburtsrecht Frankreichs und seine feierliche Anerkennung auf christlichem Boden verdient gemacht haben. Im Namen einer Laizität, deren tieferen Sinn man verkannte und sogar verschleierte, wird nun diese Geschichte schlagartig nicht nur unterbrochen, sondern ausgelöscht.

Hat nun also Frankreich aufgehört, die „älteste Tochter der Kirche“ zu sein? Beobachtet man, wie aufmerksam der Papst ihr gegenüber auftritt und wie die Franzosen ihrerseits sich um seine Gestalt scharen und seinen Worten lauschen, muss die Frage verneint werden. Vergegenwärtigt man sich die Unnachgiebigkeit Chiracs in der Auseinandersetzung um die christlichen Wurzeln des alten Kontinents, muss sie hingegen bejaht werden. Es ist also keineswegs so, dass die Kirche ob der Launen ihrer „ältesten Tochter“ müde geworden wäre. Kaum verebbten aber die letzten Bekundungen aufrichtiger Anerkennung, die in der Erhebung der kleinen Heiligen von Lisieux zur Kirchenlehrerin der Weltkirche gipfelten, verschloss das offizielle Frankreich unter allerlei Ausflüchten seine Ohren vor der klaren und starken Stimme der vergangenen Jahrhunderte, des Römischen Pontifex und des katholischen Episkopats sowie des gesamten Westens und öffnete sie jenen heimtückischen Schalmeienklängen, den Stimmen der „Loge“ und ihrer Netzwerke, die durch Begriffe wie Laizität und Modernität getarnt werden. 

Diese Realität ist allen bekannt, aber niemand spricht darüber. „Der Fürst der Welt" hat tatsächlich sein Ziel erreicht: Klar und unmissverständlich steuerte er den Kurs der Weltpolitik auf den pazifistischen Traum, den kulturellen Pluralismus auf den laizistischen, wobei er, um sein „synarchisches" Projekt zu verwirklichen, den politischen und religiösen Partikularismus übergehen musste. Übrig bleiben Integration und Anpassung ohne jegliches Mitspracherecht.

Es ist, wie gesagt, tragikomisch. Oder was ist es anderes, wenn die Geschichte oder der beharrliche päpstliche Hinweis auf sie, gleicherweise unterdrückt werden seitens eines Mächtigen, der, nachdem er die Diktate der „Loge“ übertragen und ausgeführt hat, seinen alljährlichen Auftritt in der Lateranbasilika San Giovanni zelebriert als - „risum teneatis“ - Domherr jener Erzbasilika?

3 – Die Sache ist schon gelaufen. Gab es öffentliche Reaktionen? In einer ersten Reaktion zeigten die 25 Exponenten des Vereinten Europas mäßige Zufriedenheit, die lediglich durch die Aussicht eines Referendums getrübt wurde, weil damit alles erneut zur Diskussion gestellt werden könnte. Derselbe Schröder räumte zwar ein, dass Deutschland „mehr hätte tun können“, bezeichnete aber die Ergebnisse dennoch als eine bedeutende Wende; Chirac war froh, dass das Projekt von Giscard keinen Schiffbruch erlitten hatte,  sondern aus leichter Untiefe geführt werden konnte. Er war der Überzeugung, dass mit dem Abkommen vom 18. Juni 2004 Europa handlungsfähiger werde.

Darüber hinaus waren die Reaktionen vielfältig und zahlreich. Italienische Politiker und Politologen erklärten sich mäßig zufrieden mit dem erreichten Ergebnis einerseits wegen der fehlenden Bezugnahme auf die christlichen Wurzeln der europäischen Identität, andererseits wegen der Schwäche des Textes aufgrund unvermeidlicher sektorieller Ansprüche, aber dennoch verglichen sie es mit einer „Unvollendeten". Diese in extremis zustande gekommene Einigung erfreute selbstverständlich um so mehr unseren Senatspräsidenten. Immerhin konnte eine gefährliche Spaltung verhindert werden, was aber die Skepsis nicht weniger französischer Politologen gegenüber dem europäischen Aufschwung, den die neue Charta ankurbeln sollte, schürte und zudem den in England verbreiteten Euro-Skeptizismus bestärkte, der „Blair sogar einen Verräter" nannte. In Spanien, das durch Zapateros Politik gespalten ist, stieß das Abkommen auf gleich viele Gegner wie Befürworter.

Gab es eine „katholische“ Reaktion seitens der Bischofskonferenzen oder des Heiligen Stuhls? Es ginge zu weit, darüber in angemessener Weise berichten zu wollen. Einige Konferenzen zogen es vor zu schweigen, andere wiederum schlossen sich dem Urteil des Vatikans an und äußerten vereinzelt  Anerkennung, zeigten zugleich aber auch ihre große Enttäuschung über die fehlende Akzeptanz der christlichen Identität Europas. Eigenartig – vielleicht schlechter - war die Reaktion des Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz: So beklagte er weniger, dass man die christlichen Wurzeln verschwiegen hat, sondern vielmehr, dass man nicht darauf hingewiesen hat, dass jede menschliche Ordnung immer nur vorläufig, unvollkommen und nie absolut sein kann.

Von der Reaktion des Papstes einmal abgesehen, scheint es angesichts der Reaktionen aus dem Vatikan durchaus angebracht und keineswegs respektlos, den vollständigen Mangel an Mut aufzudecken, wurde doch jede Anspielung sowohl auf die wahren Gründe wie auch auf die wahren Verantwortlichen für das Scheitern vermieden. Die Stimme erhob sich gegen einen einzigen Staat, die Türkei, die sich damit schuldig machte, sich über das Verschweigen der christlichen Wurzeln des Westens in der Präambel der europäischen Konstitution zu freuen. Eine hochrangige Persönlichkeit des Vatikans vertrat daraufhin die Nicht-Zugehörigkeit der Türkei zu Europa und boykottierte auf diese Weise ihre vielleicht übertriebenen, seit Jahrzehnten wiederkehrenden Erwartungen.

Zieht man dies alles in Erwägung, könnte man sagen, dass es sich um den üblichen Tanz zwischen den Widersprüchen handelt. Dass die Enttäuschung schmerzte, ist kein Geheimnis. Immer wieder und zu Recht betonte man, dass es ohne seine Wurzeln keine Zukunft für Europa gibt und dass in jenem von der neuen Charta skizzierten Europa die Erinnerung an die ersten und grundlegenden Stützpfeiler seiner Geschichte verblassen wird. Mit großem Bedauern nahm der Papst zur Kenntnis, dass einige Regierungen gegen einen einfachen Hinweis auf die christlichen Wurzeln in der berühmten Präambel opponierten, gleichzeitig unterließ er es jedoch nicht jenen anderen Regierungen und Instanzen, die einen solchen Hinweis befürworteten, Dank und Anerkennung zu zollen. L‘ Osservatore Romano weitete später das Bedauern auch noch auf Sachverhalte inhaltlicher Art aus, die dem Ausmaß der Hoffnungen und Erwartungen ebenfalls nicht entsprachen. Die Unfähigkeit – genauer gesagt der Unwille – des alten Kontinents, in der eigenen Geschichte gründlich zu lesen, um darin die wahre Identität zu entdecken, war wie ein Schlag ins Gesicht. All dies versetzt nicht so sehr in Erstaunen, sondern bewirkt vielmehr Bestürzung und Schmerz: Seit Jahren verwies der Papst immer wieder mit Nachdruck auf die christlichen Wurzeln, Europa aber kehrte ihm in Wirklichkeit den Rücken zu.    

Wozu also dieser Chor der Lobreden auf etwas, das weit über religiöse Anliegen hinausgeht und auf politische Inhalte und sogar auf technische Aspekte der Konstitution ausgerichtet ist? Warum folgt man den Politikern auf ihr durch und durch politisches Terrain, auf dem gerade sie selber, die Politiker, folgewidrig, wissentlich und willentlich einen Schritt nach vorn und einen rückwärts tun? Verdiente sie es wirklich, diese konstitutionelle Charta, dass in den Lobgesang der Politiker auf jene wie auch immer ausgefallene Charta auch noch die kirchlichen Organe mit Genugtuung einstimmten, weil es schließlich um eine „neue und wichtige Etappe auf dem Weg der europäischen Integration“ gehe? Welche Bedeutung für das katholisch christliche Gewissen kann die Würdigung einer solchen Konstitution haben, über die an einem Abend zu vorgerückter Stunde im Juni 2004 nur mit Mühe eine Einigung erzielt wurde, und die sich sogleich als fauler Kompromiss entpuppte? Kann für die katholische Kirche ein rein politischer Entscheid einer Annahme oder Ablehnung der Charta, sei es auf parlamentarischem Weg (Italien, Deutschland, Frankreich, Schweden, Zypern, Estland, Litauen, Finnland, Griechenland und Malta) oder durch ein Referendum (Belgien, Luxemburg, vielleicht Holland, Lettland, Polen und vor allem Großbritannien) Anlass zur Zufriedenheit sein? Nicht nur ist der Text dieser Konstitution übertrieben langatmig – in einem technisch ungerechtfertigten Ausmaß – auch Änderungen lassen sich kaum vornehmen, hinzu kommt die Oberflächlichkeit, mit der die Verfassungsgeber die dringlichsten und umstrittensten Punkte liquidierten wie auch jene  katholischen Anliegen, die nicht einmal andeutungsweise erwähnt wurden. Die einzige und unhintergehbare Tatsache jedoch, die schon den Interventionen des Papstes, des Heiligen Stuhls, überhaupt der ganzen Kirche Plausibilität verlieh, wurde mit einem flüchtigen Bedauern übergangen und sofort kompensiert mittels positiver Bewertungen, die aber per se mit der genannten Tatsache nichts zu tun haben. Niemand kümmerte sich darum, die Konsequenzen aus dem Vorgefallenen zu ziehen, niemand fragte sich, wie es dazu kommen konnte und niemand signalisierte, was unverzüglich zu tun sei.

4 – Um der Wahrheit willen, sei das bedeutungsvolle Interview einer hohen Persönlichkeit des heiligen Stuhls erwähnt, welche die Interventionen der vatikanischen Diplomatie vor allem aufgrund pastoraler Ziele rechtfertigte.

Dieses Adjektiv und seine missbräuchliche Anwendung überwältigen mich keineswegs. Sollte es aber tatsächlich einen pastoralen Zweck geben, der imstande wäre das Bedauern und die Zufriedenheit harmonisierend im Gleichgewicht zu halten, so werde ich gewiss nicht derjenige sein, der dies in Abrede stellt. Dennoch erlaube ich mir zu bemerken, dass die Gründe, die eine Reaktion der Zufriedenheit oder des Bedauerns auslösten, verschiedener Natur waren. Das Bedauern wurde durch das Schweigen der Präambel über die christlichen Wurzeln Europas bewirkt, die Zufriedenheit hingegen hing ausschließlich von politischen und technischen Wertschätzungen ab. Und dort, wo auch eine religiöse Begründung auftauchte - verschiedene Mitgliedstaaten der Union sprachen sich für die Kirche aus - ging es mitnichten um Sachverhalte, die dem pastoralen Anliegen offen gegenüberstünden, sondern bloß um eine einfache Unterscheidung zwischen politischer und religiöser Sphäre im Hinblick auf ein friedliches Zusammenleben mehrerer Religionen innerhalb des gegenwärtigen  ethnischkulturellen Pluralismus.

Im Übrigen wird in diesem Interview die Pastoral nicht als Antwort auf Mt 28,18-19 (Mk 16,15-16) gedeutet, sondern als „offener und regelmäßiger Dialog ... (für) einen fruchtbaren Weg". Der Dialog ist also nun das neue Evangelium: Man wird nicht mehr durch Bekehrung und Reue gerettet (vgl. Mk 1,15), sondern durch den Dialog.

Es ist nicht klar, inwieweit das Interview improvisiert oder am grünen Tisch voraus geplant war, jedenfalls versäumte man es nicht, sich dem entscheidenden Problem zu stellen, allerdings ohne evangelische parresia.

Besagtes Problem liegt einerseits im klaren Erkennen, warum gewisse „Länder, in denen das Christentum in Geschichte und Kultur einen entscheidenden Beitrag leistete“, sich „kategorisch“ gegen eine Erwähnung des spezifisch christlich religiösen Erbes stellten, andererseits in der präzisen Analyse der daraus zu ziehenden Folgen.

Leider lässt man das Problem als solches bestehen. Man gibt zwar Antworten, aber keine schlüssigen. Auf die Frage nach dem warum gibt man zur Antwort: „wegen eines offensichtlich ideologischen Vorurteils“. Auf die Frage, was nun weiter zu tun sei, betont man, dass „für den europäischen Aufschwung eine neue Kraft“ notwendig sei, dass „jene im Abkommen aufgeführten großen Prinzipien wie Solidarität und Subsidiarität verständlicher und fassbarer wiederzugeben seien“, und dass endlich „einige konkrete Ziele sozialer, kultureller und politischer Natur zu erwähnen seien, die von den europäischen Staaten nur gemeinsam erreicht werden könnten“.

Sieht man einmal von jener umstrittenen und jeder Erfahrung widersprechenden Behauptung eines „nur gemeinsam“ ab, das in ein „besser gemeinsam“ korrigiert werden müsste, ist festzustellen, dass man mit der ersten Antwort zwar tatsächlich ins Schwarze trifft, sich jedoch davor hütet, dieses „ideologische Vorurteil“ auch bei seinem Namen zu nennen. Beließ man ihn im Dunkeln, konnte auch die Analyse über das weitere Vorgehen bloß allgemeiner Natur sein: belanglose Worte, die von irgendjemandem, auch von den Anhängern des „ideologischen Vorurteils“ geäußert werden könnten und tatsächlich auch geäußert werden, jedoch nicht tiefer in die gegebenen Verhältnisse eingreifen und daher ohne irgendwelche Folgen für den politischen oder religiösen Bereich sind. Diesen Worten fehlt die Schärfe, um das Gewissen aufrütteln zu können, und aus dem Munde eines pastoralen Zielen verpflichteten Geistlichen klingen sie geradezu widersprüchlich. Und doch hätte es genügt, die wiederholten Erklärungen Chiracs aufmerksam zu lesen, um dieses „ideologische Vorurteil“ zu erkennen. In einem direkten und offenen Kampf, der einer gewissen Arroganz nicht entbehrte, erklärte Chirac die Unvereinbarkeit religiöser Bekenntnisse mit dem staatlichen Laizismus. Damit offenbarte er also die Stammväter dieses „ideologischen Vorurteils“.

5 – Im gegenwärtigen Klima von Politik und Kultur wird die genannte Unvereinbarkeit oft als selbstverständlich hingestellt, selbst Theologen und Katholiken allgemein verschaffen sich hierbei als Lehrmeister Gehör. Noch gängiger und nachhaltiger ist das Prinzip der Unterscheidung zwischen politischer und religiöser Sphäre und nicht wenige befürworten sogar das Prinzip der Trennung. Wer solche Lehrmeinungen kurzsichtig verteidigt, scheint sich nicht einmal mehr über die so genannten gemischten Angelegenheiten (materie mixte) im klaren zu sein, in welchen das Individuum sowohl als Bürger wie auch als Christ involviert ist. Gerade als Christ wird man durch den vorherrschenden Laizismus oft in eine unangenehme Lage versetzt. Demzufolge ist es nur bezeichnend, dass in der Präambel der europäischen Verfassungscharta jeglicher Hinweis auf die christlichen Wurzeln fehlt.

Was verbirgt sich eigentlich hinter diesem sturen Festhalten am Laizismus, und hinter dieser konsequenten Weigerung?

Dahinter verbirgt sich etwas ganz anderes und gewiss nichts besseres als der bereits veraltete und überholte Antiklerikalismus. In der Tat verbirgt sich dahinter die alles andere als versiegte Quelle des Antiklerikalismus selbst. Weiter oben nannte ich sie  „Loge“; ich könnte sie aber auch „inimica vis“ nennen, eine weit zurückliegende Definition des kirchlichen Lehramtes. Die Euphorie für den Dialog hat das allgemeine Verständnis so stark abgestumpft, dass heute erwiesenermassen nur noch wenige imstande sind, die wahren Merkmale der „inimica vis“ zu erkennen. In Wirklichkeit aber wird nicht darüber gesprochen, noch kümmert man sich darum. Niemand fokussiert den Blick auf jene entartete Verflechtung, die seit dem Illuminismus von den verschiedenen, der Freimaurerei verbundenen „maîtres-à-penser“, selber Freimaurer, allmählich verwirklicht wurde, zuerst unter dem Vorwand zum Wohle der Menschheit, dann jede andere autonome Stimme stillschweigend absorbierend in Funktion der internationalen „Synarchie“. 

Die christliche Hochburg macht den Eindruck, als wäre es ihr nicht einmal mehr bewusst, dass sie keinerlei Widerstand mehr zu bieten hat. Die Kultur wurde ihr aus der Hand gerissen. Ihr Einfluss auf Sitte und Zivilisation hat entweder abgenommen oder entspringt Motivationen und Zielen, die nicht mehr spezifisch christlich sind. Auch aus dieser Hochburg steigt der Weihrauch zum universalen Weltpazifismus empor, zur universalen Verbrüderung aller Menschen, vereint in Liebe und Eintracht ungeachtet der Rasse, Kultur und Religion - im Namen der neuen Götzen: des Menschen, der Menschheit, der Wissenschaft, des Fortschritts, des Friedens.[4]

Ich frage mich, warum dabei „die Sterne herabblicken"?[5]Das Schweigen und die noch schlimmere Gewöhnung an das veränderte Klima zeugen von Mitwisserschaft und Verrat. Ein aufrichtiger katholischer Journalismus könnte demgegenüber das kritische Gewissen der Gesellschaft und ihrer Geschichte sein: Heute erschöpft sich sein Auftrag in der unterwürfigen Ergebenheit eines „Tout va très bien, Madame la Marquise".[6]Der katholische Auftritt am Fernsehen ist einfach lächerlich: Es handelt sich nicht um sinnvolle Beiträge, die sich des Mediums zu bedienen wissen, ohne es in eine Bühne zu verwandeln, sondern um bedeutungslose Teilnahmen an irgendwelchen sich verlierenden Diskussionen, um oft abgeschmackte und geistlose Feiertagsreden oder um rein äußerliche und wirkungslose Personenkulte. Eine wirklich christliche Kunst, christliche Dramaturgie und christliche Erzähl- und Filmkunst, kurz eine Umsetzung des Evangeliums in Ausdrucksformen des Lebens, der Kultur und der Zivilisation scheint noch in weiter Ferne. Ganz zu schweigen von einer christlichen Politik, die als solche oft genug verteufelt wird. Der einzelne Christ ist sich selber überlassen, wenn er zwischen heterogenen und widersprüchlichen politischen Kräften entscheiden muss, die eigentlich die Rechte seines christlichen Gewissens wahren sollten. Noch schlimmer aber ist, dass die Quelle der Erneuerung im Bereich des heiligen Amtes ausgetrocknet ist: Die kirchlichen Berufungen bleiben weitgehend aus. Die „inimica vis" hatte leichtes Spiel bei ihrer Absicht, die erneuernde Kraft des Christentums zu neutralisieren, und die Christen klatschen ihr seltsamerweise auch noch Beifall. Es fehlen die Perspektiven: Bildungsstätten, eine Orientierung und einzelne Menschen, die „das Christentum und die Gestaltung der abendländischen Kultur" (C. Dawson) in einer kritischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung verbinden könnten. Tatsächlich wird alles - Christen und Kirchenmänner sind nachsichtig - vom „Fürsten dieser Welt" kontrolliert.

Die von mir als entartet bezeichnete Verflechtung hat in Wirklichkeit sämtliche Hebel der Weltmacht in die Hände einiger weniger gelegt. Diese wenigen unterscheiden sich zwar durch ihre Embleme, wobei besonders der B' naï B' rîth ins Auge fällt, de facto aber haben sie einen einzigen Urgrund und ein einziges Mutterhaus: die „Loge", die „inimica vis", die „Kuppel" der masonischen Macht, in deren Händen die Welt liegt: der Friede, der Krieg, die Politik, die Ökonomie und das business. Für andere mit anderen Interessen, vor allem für jene, die sich von der Bergpredigt Jesu (Mt 5-7) inspirieren lassen, gibt es keinen Lebensraum.

Angesichts dieser alles umklammernden Wirklichkeit dürfte das Verschweigen der christlichen Wurzeln Europas kaum verwundern. Die Angelegenheit ist sicherlich unangenehm, aber damit musste man rechnen.

6 – Und weiterhin  „blicken die Sterne herab“. Gewiss, aber nicht alle. Einige reagieren, wenn auch auf verkehrte Art und Weise, ohne zu bedauern oder zu beklagen, auch ohne zu bestimmen oder zu berichtigen oder gar zu versprechen, vielmehr passen sie sich an oder gehen auch soweit, dass sie applaudieren oder loben, dass sie einwilligen und sogar unbegreifliche Handreichungen bieten. Manchmal initiieren sie auch das Ganze.

So war es schon, als dieselben „Illuminaten“ im Gefolge K. Rahners die Säkularisierung für ein Moment und einen Faktor des Fortschritts für das Denken und die Sitte der christlichen und insbesondere der katholischen Welt betrachteten.Und so ist es heute im gegenwärtigen Postchristentum, wenn der schwindende Einfluss des Glaubens auf die Gesellschaftsordnung der einzelnen Länder vor aller Augen unbeachtet bleibt, oder gar ein Urteil substanzieller, bisweilen eifriger Zustimmung hervorruft.

Vielleicht trügen die gewaltigen Menschenmengen um den alten Pontifex, ebenso die begeisterten Antworten der Jugend auf seine Vorschläge: Alles Phänomene der Massenpsychologie, die kaum ein Herz verändern und noch viel weniger ein allgemeines bürgerliches Recht im christlichen Sinne bewirken könnten. Diese Bedeutungslosigkeit weckt den Verdacht, dass die Zeiten des Christentums vorbei sind. Ganz anders sieht es der hochehrwürdigste Erzbischof von Paris, ein jüdischer Konvertit, der keine Gelegenheit versäumt, auf seine jüdische Identität hinzuweisen und das Judentum unter allen Gesichtspunkten heftig zu verteidigen. In seinem 2002 erschienen Buch (La promesse) wagte er die Kirche zu beschuldigen, die Erwählung des Volkes Israels für sich missbraucht und unrechtmäßig dessen Platz eingenommen zu haben, wovon „Jesus nur ein Symbol sei“.

Nun, dieser jüdisch gesinnte Erzbischof vertrat später die Ansicht, dass „die Stadt ein Ort der Freiheit sei ..., wo neue und starke Ideen entstehen und sich entwickeln könnten", wohingegen die „ländlichen Gesellschaften" bloß Orte überlieferter Strukturen bleiben würden. Unter dieser Voraussetzung sei er überzeugt, dass in der Stadt, wo „eine Auflösung der konformistischen Kultur  stattfinde [...], die Verkündigung des Evangeliums einen eigenen Freiheitsraum entdecken und neue, unabhängige Orte schaffen werde", kurz: neue wahre christliche Gemeinschaften.

Es wäre interessant zu erfahren, ob er sich bei diesen Worten auf seine Stadt Paris bezog, wo bereits in 23% der Pfarreien nichtsakramentale Ehen zwischen Gläubigen und Ungläubigen geschlossen wurden, wo ein hochgejubelter Katechismus (Pierres vivantes) den Wert der Sakramente und den übernatürlichen Geist unterdrückt und untergraben hat, wo man in der Bußfeier zuerst eine allgemeine Generalabsolution erteilt und es der Entscheidung des Einzelnen überlässt, ob er anschließend eine Einzelbeichte ablegen will oder nicht, wo in entsprechender Weise für Konkubinatspaare eine Willkommens-Liturgie vorgesehen ist mit der Möglichkeit einer späteren Einbindung in das sakramentale Leben, wo ein so genanntes Centre J. Bart über die Messfeier daherdoziert und sie auf eine gewöhnliche Geschichte reduziert. Ich fahre nicht fort, denn ich will niemanden belästigen. Dennoch kann ich darüber nicht schweigend hinwegsehen, dass derselbe Kardinal, der vor einigen Jahren in Anlehnung an einen seiner französischen Kollegen „die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes" behauptete,  praktisch bei der Aufhebung - ich betone: Aufhebung - Christi angelangt ist, äußerte er doch sogar die Überzeugung, nur Israel besitze „das Licht" und sei zu dessen Verbreitung berufen.

Heute ist er allerdings der Ansicht, dass Christus der einzige Retter und „das Evangelium eine absolut neue Wirklichkeit sei“, die aber „in der jüdisch-biblischen Tradition“ wurzle. Inwiefern jedoch dieses absolute Novum des christlichen Ereignisses mit der jüdischen Verwurzelung in Einklang gebracht werden kann, bleibt ein Problem, das nicht näher untersucht wird, wahrscheinlich um die Widersprüchlichkeit jener Ansicht nicht eingestehen zu müssen, die schon der Verfasser des Hebräerbriefes als absurd entlarvte: „Indem er von einem neuen Bund spricht, hat er den ersten für veraltet erklärt. Was aber veraltet und überlebt ist, das ist dem Untergang nahe“ (Hebr 8,13).

7 – Das oben Gesagte kann und darf nicht nur an die Adresse von Paris gerichtet sein: Es ist vielmehr ein Warnruf an die gesamte Kirche. In Deutschland ist die Lage nicht besser als jene in Frankreich, Italien, Spanien, kurz: als jene im übrigen Europa; auch nicht in Asien oder Amerika noch in der ganzen Welt.

Ich kenne die Gefahr, der ich mich aussetze. Eine mögliche Vergeltung fürchte ich jedoch nicht, ich würde sie sogar willkommen heißen. Gemeint ist hier aber jene Gefahr der kleinen Leute, die zu große Schritte tun. Wer bin ich denn, um so zu sprechen? Ist es parresia oder Anmaßung?

Mein Leben im Glauben innerhalb der Kirche gestattet mir zwar eine klare Sprache, ermahnt mich aber andererseits zur Schweigsamkeit und Demut. Die Pein ist schon alt. Ich weiß aber auch, sollte das Schweigen an Mitwisserschaft grenzen, so müsste die Pein durch eine offene, jedoch respektvolle Anklage beendet werden. Also durch eine Anklage, nicht etwa durch jenes unfruchtbare Klagen der Dichter, das R. M. Rilke einen Fluch nannte, sondern durch das klare und durchlittene Bekennen der Übel, die uns so bedrängen zugunsten einer objektiven Untersuchung und einer wirksamen Behandlung.

Im Jahr 1987 sprach ich genau mit dieser Einstellung und Absicht vom Jahr Null. Der Papst bestand auf der Neuevangelisierung; in meiner Kleinheit und Nichtigkeit stieß ich hingegen noch tiefer zu den Wurzeln vor, dort wo man die Substanz in verschwiegener Absicht durch die Struktur ersetzt und das Christentum darniederliegt, wo man also wieder von vorn beginnen muss.

Ja, die Stunde ist tatsächlich gekommen, um es laut zu wiederholen: Das Jahr Null ist das Jahr der Erstevangelisierung, nicht der Neuevangelisierung. Das Jahr Null - nicht weil all das, was man bis heute gemacht hat, hinweggefegt und das Zeichen der christlichen Gegenwart in der Weltgeschichte ausgelöscht werden müsste, woran leider die „inimica vis" denkt - sondern weil das christliche Gewissen wieder hergestellt werden muss, unaufschiebbar, und die historische Bezeugung hierbei nicht genügt. Man muss wirklich von vorn beginnen beim ABC des Christentums, bei den allerersten Grundlagen des Katechismus, damit der heutige, von zu vielen Sirenen verführte Mensch wieder ergriffen wird von der Faszination des christlichen Ereignisses, das allein all seinen Erwartungen entspricht, und das deshalb allein würdig ist, gelebt zu werden.

Anschrift des Autors:

Msgr. Prof. Dr. Brunero Gherardini, Palazzo die Canonici, I-00120 Città del Vaticano


[1]Übersetzung aus dem Italienischen von Carmen Ploner-Schär

[2]Mk 8,32: parresia ton logon elalei.

[3]Anm. d. Ü.: Die erste italienische Fassung lautete: „Perché l’Unione Europea sappia attingere costantemente nuova linfa dal patrimonio cristiano che è parte essenziale della sua storia e cultura“. Die deutsche Fassung lautete demgegenüber: “(Wir beten), dass die europäische Union aus ihrem christlichen Erbe, dem wesentlichen Bestandteil ihrer Kultur und Geschichte, neue Kraft schöpft“.

[4]Zwei Ausnahmen gibt es dennoch, nämlich die beiden französischen Bischöfe: Mgr. BRINCARD, „il faut combattre la franc-maçonnerie“, in: Aletheia 28, 16. April 2002; sowie Mgr. REY, „On ne peut être catholique et franc-maçon“, in: La Nef 62, 18. September 2004, S. 2-4.

[5]Anm. d. Ü.: Roman von Achibald J. Cronin „The stars look down“, der 1975 auch verfilmt wurde.

[6]Anm. d. Ü.: Französisches Chanson von Ray Ventura; verdeutscht: Alles in Ordnung, verehrte Frau Markgräfin.